Tiger Eye
brach Hari schließlich die Stille. »Ich habe sie ganz vergessen.«
Dela verzog das Gesicht. »Ich bin nur gegen eine Mauer gelaufen. Die Leute, die nebenan ihre Stände haben, behaupten, sie wäre tot.«
Hari erstarrte. »Ermordet?«
»Sie lügen. Sie beschützen sie aus irgendeinem Grund. Ich konnte nur ihren Namen in Erfahrung bringen. Long Nü.«
»Drachenfrau«, meinte er nachdenklich.
»Sagt dir das etwas?«
Hari schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«
»Na ja, ich glaube jedenfalls nicht an Zufälle. Sie verkauft mir deine Schatulle, und am nächsten Tag ist sie tot? Für meinen Geschmack ist das zu merkwürdig.«
»Der Magier könnte Long Nü aus Rache, weil sie dir die Schatulle verkauft hat, ermordet haben.«
»Oder sie hält sich seinetwegen versteckt. Diese Möglichkeit ziehe ich vor. Irgendwie mochte ich sie.«
Als sie ihr Hotel erreichten, blieb Dela an der Rezeption stehen, um nach Nachrichten zu fragen. Einige Geschäftsleute, die sich für besonders cool hielten, warfen Hari verstohlene Blicke zu. Die sehr jungen Frauen, die an ihren Armen hingen, taten dasselbe, nur waren sie weit weniger diskret.
»Sie sind richtig scharf auf dich«, sagte Dela und deutete auf die Mädchen, die in Haris Richtung lächelten.
Hari würdigte sie kaum eines Blickes. »Das sind nur hohle Imitationen der Frauen, die sie sein sollten. Du dagegen bist echt.«
Wow!!
Der Empfangschef hüstelte, und Dela riss sich zusammen, um sich auf sein amüsiertes Gesicht konzentrieren zu können.
»Sie haben ein Päckchen bekommen«, erklärte der Mann und reichte ihr einen unauffälligen braunen Karton, auf dessen Etikett ihr Name gedruckt war. Er wies weder einen Absender noch Briefmarken auf. Er war persönlich abgegeben worden.
Dela lächelte, als sie das Paket umdrehte. Auf den Boden war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen gekritzelt worden, mitten in einem großen Herz. Rolands Methode, Zuneigung auszudrücken. Es hätte Dela nicht überrascht, wenn diese Tätowierung auch seinen Hintern geziert hätte, mit dem Wort »Mutti« am unteren Rand.
»Was ist das?«, wollte Hari wissen, als sie zu ihrem Zimmer gingen. Aber sein Blick ruhte nicht lange auf Dela. Er betrachtete die Umgebung und musterte jeden, der ihnen nah kam. Sein Körper war angespannt. Er schien entschlossen, sie nicht einmal einen kleinen Finger weit von sich fortzulassen. Dela sollte es recht sein.
Als sie den Aufzug erreichten, biss Hari seine Kiefer so fest zusammen, dass Dela fürchtete, sie würden gleich aus seinem Gesicht springen. Sie drückte seine Hand, während sie hinauffuhren, und er starrte kläglich auf die geschlossenen Türen.
»Deine Ausweispapiere.« Dela beobachtete ihn besorgt. »Alles, was du brauchst, damit du in der Gesellschaft funktionieren kannst. Sozialversicherungsnummer, Geburtsurkunde, solche Dinge.«
»Ich werde dir einfach glauben«, sagte er eine Minute später, als er mit ihr im Schlepptau den Aufzug hastig verließ und seine Fähigkeit, in ganzen Sätzen zu sprechen, wiederhergestellt war. »Dieser... dieser Freund deiner Familie war in der Lage, all das für mich zu besorgen?«
»Ja, aber erzähl das niemals irgendjemandem. Du bist in Amerika geboren und aufgewachsen, und du hast deinen Ausweis auf die gute, altmodische Weise bekommen.«
»Aha.« Sie hatten ihr Zimmer erreicht. »Du machst Geschäfte mit Kriminellen.«
»Aber nein.« Sie schob den Schlüssel ins Schloss. »Sie sind nur besonders geschickt darin, schwierige Dinge zu erledigen.«
»Das bin ich auch, aber bei meinen Methoden werden meistens Menschen getötet.«
Dela wollte etwas Markiges erwidern, Hari aber schob sie zur Seite, als sie die Tür öffnete, und stapfte mit einer Ich-werde-gleich-jemandem-wehtun-Haltung in das Zimmer.
Einen Moment später begriff Dela auch, warum.
Der Raum war regelrecht auseinandergenommen worden, wie bei Rockstars. Sie war überrascht, dass die Vorhänge nicht brannten. Ihre Kleidung war überall am Boden verteilt und zerfetzt, die Bettbezüge zerrissen und die Kissen ihrer Füllung entledigt worden. Jedes Möbelstück, das nicht niet- und nagelfest war, stand irgendwie seltsam verbogen da - wie moderne Kunst in ihrer schlimmsten Spielart.
Dela sah im Schrank nach. Haris Schwert und seine Messer lagen noch da, obwohl ziemlich offenkundig war, dass sie als Werkzeug für diese Zerstörung gedient hatten. An den Klingen hingen noch Stofffetzen. Schuldig durch Verwendung. Dela berührte die Waffen, aber wer
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