Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Jedes Mal, wenn ich ihn sah, wirkte er stiller und blasser. Er trug sein Haar nicht mehr lang und kam nur noch nach unten, um zu essen oder um zu seiner Arbeit bei Circle Cycle zu gehen. Er gab immer nur ein leises »Hi« von sich oder winkte mir ernst zu, was für mich fast eine Ehrenbezeigung war. Dafür war ich ihm dankbar.
25
Der Aussteiger
In jenem August fuhren Peter und ich öfter nach Coney Island, um bei Nathan Hot Dogs zu essen, Achterbahn zu fahren (auch wenn Peter danach tagelang ans Bett gefesselt war) und im Meer zu schwimmen. Peter sagte, er wolle mich auf dem Karussell sehen, aber ich hatte keine Lust; sah er nicht, dass ich viel zu alt dafür war? Wie immer gab ich ihm nach, weil es einfacher war, als mir sein ständiges Gejammer anzuhören. Während sich die beleuchteten Spiegel und die ländlichen Bilder unter dem Dach drehten, versteckte ich mein Gesicht hinter meinem feuchten Haar, roch das Salz des Atlantiks in meinen zerzausten Strähnen. Ich hatte mir angewöhnt, mir das lange Haar ins Gesicht zu kämmen wie ein Bobtail und, selbst wenn die Wolken tief hingen, eine Sonnenbrille zu tragen.
Jedes Mal, wenn wir nach Coney Island fuhren, erzählte Peter die Geschichte von der Bande aus Brooklyn, zu der er mit fünfzehn gehört hatte. Als Aufnahmeprüfung hatte er reglos dastehen müssen, während die anderen Jungs mit selbstgebauten Pistolen auf ihn anlegten, aus denen kein gerader Schuss kam; es war beängstigend, wie ihm die kleinen Kugeln um den Kopf zischten. Er erzählte mir, dass sie ihn so lange täglich zusammenschlugen, bis er sich einverstanden erklärte mitzumachen; sie hatten Frauen überfallen, die über die Mermaid oder Neptune Avenue gingen, um mit dem erbeuteten Geld auf den Karussells im Steeplechase Park zu fahren.
Einmal musste Peter zur Toilette und ließ mich allein am Strand zurück, wo ich mit den Füßen in der Brandung stand. Da kam ein gutaussehender Latino mit nassen Basketballshorts auf mich zu. Anfänglich rauschte das Meer zu laut für eine Unterhaltung, weshalb ich ihm nur einen flüchtigen Blick zuwarf. Die donnernde Brandung sog die kleinen Sandkörner unter meinen Füßen fort, dass es kitzelte. Die Wolken waren weiß und zart, wurden fast verschluckt von der Übermacht des blauen Himmels und des Wassers. In der Ferne hörten wir einen schwachen Wirbelsturm aufziehen.
Schließlich sprach der Latino mich an. »Ich hätte besser eine andere angezogen«, sagte er und wies auf seine Shorts.
In Gegenwart eines so süßen Jungen bekam ich kaum ein Wort heraus. Ich stammelte so etwas wie »Und warum hast du nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Die Matrix hat mir keine Zeit gelassen, meine richtige Badehose zu suchen.«
»Die Matrix?«
»Meine Mutter.« Er hatte keine Gesichtsbehaarung, nur einen weichen aprikosengleichen Flaum auf der Oberlippe, der sich beim Küssen bestimmt gut anfühlte, dachte ich. Ich kam mir ein bisschen wie eine Meerjungfrau vor, die vor den Füßen eines Menschenjungen gestrandet war. Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, als würde ich ihn irgendwie neugierig machen.
Vor uns sprangen drei Kinder mit Eimern ins Wasser, um sie gefüllt zu ihren Sandschlössern zurückzutragen. Spielende Kinder zu sehen machte mich oft traurig, ohne dass ich genau wusste, warum.
»Wie heißt du? Hast du Geschwister?«, fragte ich und merkte, dass ich zögernd sprach, mit einem unnatürlichen Rhythmus.
»Danny. Einen Bruder.«
»Ich bin Einzelkind.«
»Oh, also eine Prinzessin. Verwöhnt, verwöhnt.« Er grinste und schüttelte den Kopf. »Habe deinen Namen nicht verstanden.«
»Michelle«, sagte ich, sofort ruhiger durch meine Lüge.
»Scheibenkleister! Guck mal die Qualle da! Die ist ja total riesig.«
»Wo hat das Ding seinen Mund? Frisst es mit dem ganzen Körper?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
Der Junge wandte den Blick ab. »Ist der Typ, der auf uns zukommt, dein Vater?«
Ich erwiderte nichts, sondern schaute nur in den Sand. Meine größte Sorge war, dass Peter mich vor Danny mit meinem richtigen Namen ansprach.
»Sieht aus, als wär er sauer. Hab ja gesagt, du bist ’ne Prinzessin«, sagte Danny grinsend und sprang ins Meer.
***
Jeden Tag fuhr Peter mich zu der katholischen Highschool in der Nachbarstadt von West New York, bis ich mich an einem Wintertag schlichtweg weigerte, noch einmal dorthin zu gehen. Ich war erst fünfzehn und in der zehnten Klasse, also eigentlich noch zu jung, um die Schule zu
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