Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Dornenkrone gemalt, verflochten mit Rosen und triefend vor Blut, unter die er die folgenden Worte geschrieben hatte: »Er gab sein Blut für unsere Sünden«. Meine Mutter war in einer ähnlich religiösen Phase und hängte sich das Bild neben ihr Bett an die Wand, zusammen mit aus Zeitschriften geschnittenen Bildern von Tieren und Babys, Fotos von mir als Kind und ihren Selbsthilfesprüchen.
Peter behauptete, den ganzen Samstag würde er seine Videos von mir schauen, und flehte mich an: »Denk an mich, wenn du mit ihm zusammen bist, zumindest alle paar Stunden. Ich denke auch an dich. Schick mir telepathische Nachrichten.« Mir fiel wieder ein, dass er das auch von mir verlangt hatte, als ich noch klein war. Manchmal flüsterte er mir sogar ins Ohr, er hätte meine Gedanken gehört. Immer wieder nörgelte er herum, ich solle ihm Anthony vorstellen, und wenn ich nach Ausflüchten suchte, fragte er, ob ich mich für ihn schämte (er besaß kein einziges Kleidungsstück mehr, das nicht schmutzig, löchrig oder mit Farbe bespritzt war, außerdem hatte er sein Gebiss verloren, so dass er es nicht mehr zu besonderen Gelegenheiten einsetzen konnte). Ich wusste nicht, warum er so erpicht auf dieses Treffen war, und redete mir ein, es seien seine Vatergefühle.
***
»Früher habe ich immer aufs Tempo gedrückt, aber du bist auch nicht schlecht«, sagte Peter und gab Anthony nach dem Billardspiel die Hand. Anthony sagte später zu mir, mein Halbonkel sei ja ganz nett, aber ein bisschen »durchgeknallt«. Ich fragte ihn, was er damit meine, und er antwortete: »Einmal hatte er gleichzeitig zwei Zigaretten brennen und merkte es nicht mal.«
Am Montag sahen wir Golfern zu, die einen Ball nach dem anderen schlugen, und aßen Hamburger von einer kleinen Imbissbude. Peter sagte: »Und, meinst du, Anthony ahnt etwas?«
»Dass wir nicht verwandt sind?«
»Nicht nur das«, sagte Peter. »Ich meine, das mit uns.«
»Was ist denn mit uns?«, fragte ich und riss eine Serviette in Stücke. Zwischen uns lief ja überhaupt nichts mehr.
»Warum reißt du immer Servietten klein? Das machst du jetzt schon seit acht Jahren«, sagte er und sah zu den Golfern hinüber.
»Natürlich weiß er das nicht.«
»Ich glaube, er ahnt etwas. Ich habe nicht gesagt, dass er was weiß.«
»Warum lächelst du so?«
Peter erstarrte. »Was? Darf ich jetzt nicht mehr lächeln? Es ist ein schöner Tag.«
Um die Zeit, die ich mit Peter verbrachte, vor Anthony zu rechtfertigen, hatte ich behauptet, ich würde unter der Woche auf das Kind einer Frau namens Gretchen aufpassen. Ich nahm die nächste Serviette und begann, sie zu zerfetzen.
»Ich habe gesehen, dass er eine Haarbürste und Handcreme im Getränkehalter im Auto hat; hatte dein Vater nicht auch einen Kamm im Handschuhfach? So einen schicken Sportwagen wie Anthonys wäre Louie bestimmt auch gerne gefahren.«
»Mein Vater hatte einen grauen Chevy , schon vergessen?«
»Ja, aber Louie war ja auch, keine Ahnung, fünfundvierzig, als wir uns kennenlernten? Ich meine, als er so alt war wie Anthony …«
»Ich glaube, mein Vater hat sich nie viel aus Autos gemacht. Anthony kann dir innerhalb von zwei Sekunden jede Marke und jedes Modell nennen. Er ist ein Autofreak, besonders für getunte Wagen. Sein Vater hat mit ihm die ersten Fahrversuche auf einem Feld gemacht, als er acht Jahre war. Er ist mit mir zu diesem Feld gefahren und bringt es mir jetzt auch bei.«
»Außerdem war er stark parfümiert. Nicht so stark wie dein Vater, aber … oh, seine Silberkette hat mich an das Kreuz von deinem Vater erinnert.«
Es war fast, als wollte Peter die Zeit zurückdrehen und noch einmal mit Poppa im Benihana essen. Poppa hatte sich damals anschließend aus meiner Erziehung herausgehalten. Bezweckte Peter nun, dass Anthony sich ebenfalls von mir lossagte? So wie Tania? Die Frage ließ mir keine Ruhe. Wenn er mich doch liebte, warum versuchte er dann, meine Weiterentwicklung aufzuhalten? Er konnte über nichts anderes als die Vergangenheit reden. »Tja, sie haben aber nichts gemein. Du hast ja gesehen, wie ruhig Anthony ist.«
»Vielleicht mochte er mich einfach nur nicht.«
»Warum sollte er?«
Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück, während er seine verschränkten Finger betrachtete. »Weil ich sein Konkurrent bin, deshalb. Selbst wenn er nichts von uns weiß, aber so was spürt man.«
Da begann ich, mir Sorgen zu machen. Während sie Billard spielten, war ich zur Toilette gegangen. Hatte Peter
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