Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
bewarb ich mich, mittlerweile siebzehn, am Hudson County Community College , nachdem Poppa gesagt hatte, ich müsse mir entweder Arbeit besorgen oder wieder zur Schule gehen. Das hatte ich nicht einfach nur eingesehen, ich war ganz begeistert von der Aussicht, das College zu besuchen; ich wusste, dass es anders sein würde als auf der Highschool. Peter beklagte sich nun ständig über den Verlust seiner Männlichkeit. Was mich betraf, war das ein Grund zum Feiern: Der böse Peter, der aus dem Keller, war endlich fort.
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Als ich am HCC-College das Hauptfach Frühkindliche Erziehung aufnahm, befürchtete ich, ich sei unsympathisch, doch konnte ich mich bald sowohl mit Mädchen wie mit Jungen anfreunden. Den Jungs sagte ich gleich zu Beginn, dass ich mit ihnen nichts anfangen wollte, und daraufhin ließen sie mich auch eine Weile in Ruhe, gingen sonntags mit mir aus oder trafen sich vor dem Unterricht mit mir auf einen Kaffee. Wenn mich einer fragte, ob ich mit ihm gehen wollte, log ich, ich sei noch nicht so weit, ich hätte noch nicht verarbeitet, was mir mein letzter Freund angetan hätte. Aber vielleicht war das gar nicht gelogen. Jahrelang war ich mit Peter zusammen gewesen, auch wenn es schwer war, ihn als »meinen Freund« zu bezeichnen. Zutreffender wäre wohl die Umschreibung »eine Art Vater, der Sex mit mir hatte«.
Ich schämte mich zu sehr, als dass ich irgendjemandem etwas über Peter oder meine Vergangenheit anvertraut hätte, dafür öffneten sich mir andere. Jennifer schniefte vorm Unterricht Koks, Keisha war zweimal wegen Depressionen eingewiesen worden und glaubte immer noch, Jesus würde sie auf dem Telefon anrufen, Natalie hatte wie ich versucht, als Jugendliche schwanger zu werden, nur war es ihr auch gelungen, so dass sie jetzt als exotische Tänzerin arbeitete, um Geld für sich und ihren Sohn zu verdienen, während sie nebenbei die Zeit finden musste, für ihren Abschluss als Krankenschwester zu lernen. Katie hatte schon Sex mit verschiedenen Männern mittleren Alters gehabt und glaubte, sie müsse einen HIV-Test bei einer Klinik in Jersey City machen, hatte aber zu viel Angst davor. Die Mädchen in meinem Alter unterhielten sich ungeniert über die unterschiedlichen Stellungen, die sie beim Sex ausprobierten, über die Spielzeuge, mit denen sie sich befriedigten, und über die Unterwäsche, die den jeweiligen Freund antörnte, doch niemand erzählte jemals über einen Typen, der Fantasien wie Peter hatte.
Sonntags fuhr ich jetzt hin und wieder mit Rocco, der vor einem Jahr aus Nigeria in die Vereinigten Staaten eingewandert war, in eine Mall oder nach New York. Oder ich ging mit Tania, einer Puertoricanerin mit blonden Strähnen und einem Piercing in der Zunge, auf der Bergenline Avenue einkaufen. Wenn ich etwas mit Rocco unternahm, schlugen wir abwechselnd vor, was wir machen wollten, Tania hingegen überließ ich alle Entscheidungen: welche Filme wir uns ansahen, welche Musik wir hörten, selbst welches Essen wir bestellten. Ihr gefiel diese Rolle, und ich genoss meine Funktion als Spiegel ihrer Energie und Sexualität. Tania hatte ein breites, katzenartiges Gesicht mit sinnlichen Nasenlöchern, große Brüste, einen wohlgeformten Hals, dichtes Haar und eine gerechte Wut auf Polizisten, Atheisten und eingebildete Kerle, die sich auf gar nichts was einbilden konnten. Am liebsten redete Tania über sich selbst, was gut funktionierte, da ich ja in die Rolle des Zuhörers geschlüpft war. Auf diese Weise lernte ich mehr. Wenn ich mit Tania unterwegs war, kam es mir gelegen, wenn sie sich austobte und aus sich herausging, während ich schwer fassbar blieb, wie ein Schatten, mit dem sie nachts allein in ihrem Zimmer boxte. Etwas in mir, wofür ich keine Worte fand, sah ich in Tania, so dass ich sie instinktiv nicht als Konkurrentin begriff, sondern sie beobachtete, um sie genauer kennenzulernen. Da ich ihr keinen Anlass zum Neid gab, konnte ich sie verleiten, mir die Perle ihres wahren Selbst zu offenbaren. Das war mir viel mehr wert als die kurzfristige Genugtuung, sie zu beeindrucken; es war mir ernst, so wie nichts anderes ernst sein konnte, denn ich hatte oft das Gefühl, als sei ich in den letzten Jahren nur ausgesaugt worden und müsse meine Persönlichkeit jetzt erst wieder neu erschaffen. Wie ein Architekt brauchte ich dafür verlässliche Baupläne. Die fleißigen Pastelltöne von Rocco und die grellen Primärfarben von Tania waren zwei Schattierungen auf einer Palette, die sich jede
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