Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
verließ, legte ich die Finger zaghaft um die Metallstange, die den großen Sonnenschirm über unseren Köpfen hielt. Irgendwie fühlte ich mich auf diese Weise sicherer.
»Diese Frau ist vielleicht komisch. Die Hitze bekommt ihr wohl nicht. Was glaubt sie eigentlich? Was ist daran falsch, an einem heißen Tag ein kaltes Bier zu trinken? Die Frau ist verrückt. An einem heißen Tag streite ich mich nicht gerne. Ich sitze gern im Schatten und genieße ein kaltes Bier unter einem großen Sonnenschirm. Und sie tut so, als würde ich diese Hitze mögen. Ich hasse die Hitze und die Schwüle! Aus diesem Grund habe ich Puerto Rico verlassen! Ich bin hierher geflohen. Aber dann traf ich diese Frau.«
»Poppa, erzähl mir das Ende der Geschichte!«
»Na gut«, sagte er, und ich starrte auf seinen rotbraunen Bart und dachte an den Käfer, den ich vor kurzem zerdrückt hatte, weil ich sehen wollte, welche Farbe sein Blut hatte. Das Blut war orangefarben gewesen und hatte ekelig gerochen; ich hatte mich gewundert, dass es nicht rot war. Poppa fuhr fort: »Niemand weiß es genau. Es gibt zwei Versionen. In der einen bleibt das Mädchen bei seinen Eltern, die es im Bett pflegen, bis es alt wird und stirbt. In der zweiten Version betet das Mädchen eines Nachts zum Teufel, er solle ihm die Beine zurückgeben. Es hatte auch schon zu Gott gebetet, aber der hatte nicht reagiert. Der Legende nach öffnete die Mutter eines Tages die Kinderzimmertür, und das Mädchen war fort und ward nie wieder gesehen. Doch manchmal glaubte die Mutter, auf dem Dach ein seltsames Klopfen zu hören, das nicht vom Regen oder von Zweigen auf der Teerpappe stammte; es klang wie das Tapsen von Füßen. Manche haben behauptet, auch wenn man das nicht unbedingt glauben muss, denn Kinder lügen gerne, aber einige Kinder zur Zeit meines Urgroßvaters erzählten, dass sie das Mädchen nachts mit einem großen gehörnten Ungeheuer auf dem Dach sahen. Sie hielten es für den Teufel persönlich, und die beiden tanzten zusammen!« Poppa unterbrach sich, um einen Schluck Bier zu trinken. »Also, ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll. Die erste Version kommt mir etwas glaubhafter vor. Aber auch die zweite Version könnte stimmen.«
Kläglich blickte ich auf meine Serviettenfetzen hinab; ohne es zu bemerken, hatte ich eine Serviette nach der anderen zerrissen. Mein Vater griff über den Tisch, stupste meine Nase und strich mir über die Wange.
»Keesy, ich erzähle dir das zu deinem eigenen Vorteil. Man muss in der Wirklichkeit leben, nicht mit dem Kopf in den Wolken. Ich will, dass meine Tochter so stark und unerschütterlich wie ich durch die Welt geht.«
***
Trotz Poppas mahnendem Beispiel wurde ich immer verträumter, je weiter der Sommer ins Land zog, und in meinem Kopf nahm eine Geschichte nach der anderen Gestalt an. Peter ermutigte mich nicht nur, meine Geschichten zu erzählen, er half mir auch, eine zu entwickeln, die uns ganz allein gehörte. Sie hieß Super-Tiger und handelte von einem Tiger mit Flügeln, der durch die Welt flog und Menschen rettete. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, ich weiß nur noch, dass Peter verschiedene Figuren darstellte, gerne mal Schurken, während ich immer dieselbe Rolle spielte, nämlich Super-Tiger selbst. Super-Tiger war ein Er, darauf bestand ich, sonst hätte die Geschichte ja Super-Tigerin heißen müssen. Ich kannte nicht den Grund, doch ich spielte gerne männliche Figuren, wenn ich Peter meine Geschichten erzählte. Dementsprechend übernahm Peter oft die weiblichen Rollen und setzte eine alberne hohe Stimme auf, was immer für einen Lacher gut war. Ich war froh, dass meine Mutter meist mit ihrem Faktenbuch beschäftigt war oder uns aus dem Liegestuhl heraus einfach nur betrachtete, ohne sich in unsere Geschichten einzumischen. Außerdem war ich froh, dass Inès Vollzeit arbeitete und die Jungen oft aus dem Haus waren, Skateboard fuhren, in die Spielhalle gingen oder auf dem Dachboden Fernsehen guckten. Peter sagte einmal zu meiner Mutter, es sei gut, dass wir uns kennengelernt hätten, denn Miguel und Ricky würden langsam älter und wollten nicht mehr so viel Zeit mit ihm verbringen. Er machte sogar Witze, es sei einfacher, eine Affenhorde zum Abendessen zusammenzutrommeln, als am Wochenende mit seiner Familie einen Ausflug zu machen, und sei es nur ins Schwimmbad auf der 45th Street. Ich spielte Ball mit Paws, während sie in ihren Liegestühlen saßen und sich unterhielten. Peter
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