Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
achtzehn zur Armee gegangen. Mein Vater war bei der Armee gewesen, meine Brüder auch, deshalb war mir klar, dass ich ebenfalls hingehen würde. Glaubst du etwa, es war schön, in Deutschland in einem Panzer zu sitzen, in dem es fünfundfünfzig Grad heiß war? Aber heute bin ich froh, dieser junge Mann gewesen zu sein, der fast an der Hitze in diesem Panzer gestorben ist, denn wenn dieser junge Mann die Prüfung nicht bestanden hätte, wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Das Wichtigste, Keesy, ist Selbstachtung. Andere mögen mich hassen, meine Kollegen können mich hassen, mein Chef kann mich verachten, die Wilden auf der Straße sollen mich meinetwegen nicht ausstehen können, aber ich weiß, dass ich in dem Panzer gesessen habe, dass ich bei der Armee jeden Tag mein Bett perfekt gemacht habe, dass meine Kleidung immer korrekt war. Ich sehe mich an, und ich weiß, dass ich den Vertrag des Lebens eingehalten habe. Das Leben ist ein Vertrag, Keesy.«
Poppa hielt kurz am Straßenrand, griff nach dem Sechserpack Bier hinter dem Beifahrersitz, steckte die leere Flasche in eine Einkaufstasche und schob eine neue in die zerknitterte Papiertüte. Er bot mir einen Schluck an, aber ich lehnte ab und behauptete, ich möge nur kaltes Bier. Er lachte und tätschelte mein Bein.
»Als ich deine Mutter heiratete, hatte ich keine Ahnung, dass ich mir eine kranke, hilflose Frau eingehandelt hatte. Ihre Schwester ist eine Schlampe, aber ich hätte auf sie hören sollen. Diese Schlampe in Connecticut hat mich gewarnt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Weißt du, was sie mir erzählt hat, Keesy? Sie sagte, wenn sie mit deiner Mutter an den Strand ging, hätte deine Mutter immer Kopfhörer aufgesetzt. Die meisten Menschen würden die Brandung hören wollen, den Wind, die Schreie der Möwen. Aber deine Mutter wollte immer Musik hören. Ich hätte damals schon wissen müssen, dass etwas nicht stimmt mit ihr. Aber junge Leute sind dumm. Ich weiß nicht, warum ich eine Frau wollte. Allein wäre ich glücklicher gewesen, als Einsiedler. Aber ich wollte Kinder haben, ich wollte meine Gene an die nächste Generation vererben; ich hatte den schlichtesten Lebenstrieb, nämlich mich fortzupflanzen. Vergiss das nie: Deine Instinkte irren sich fast immer. Richtig ist das, was dir deine Verwandten und Bekannten sagen, die kennen dich besser, sogar ein Fremder auf der Straße, der überhaupt nichts von dir weiß: Schildere ihm deine Situation, und du bekommst einen besseren Rat, als wenn du dich hinsetzt und selbst drüber nachdenkst!«
Gedankenverloren war Poppa im allabendlichen Stau auf der Bergenline Avenue bis zu der Stelle gefahren, wo sie zum Kennedy Boulevard wurde. Wir hatten Pastore Music , The Burger Pit und das Four Star Diner passiert, waren bis zu Sears und wieder zurück gefahren. Poppa hatte recht: Diese Häuserblocks strahlten etwas Trauriges, Verwüstetes aus. Vielleicht lag es daran, dass Bergenline Avenue ab der Kreuzung mit der 29th Street trostloser wurde und es von da an nur noch bergab ging: weniger Geschäfte, weniger Menschen, mehr Jugendliche, die auf den Kühlerhauben von Autos herumhingen, mehr alte Männer auf den Treppen mit Spirituosen in Papiertüten.
»Ich sag dir, Keesy, ich würde eher sterben, als so auf der Straße gesehen zu werden, mit billigem Whiskey!«, schnaubte Poppa verächtlich. »Aber immerhin haben diese Penner hier in Union City Selbstachtung, sie betteln nicht um Geld. Sie sitzen still da und denken darüber nach, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist, und wenn man vorbeigeht, betteln sie einen nicht an oder jammern einem etwas vor.« Er trank einen Schluck Bier. »Trotzdem muss ich immer eine Pistole dabeihaben, sonst überfallen sie mich. Ich trage schönen Schmuck, die Menschen sind neidisch. Ich sehe gerne gut aus, und die Verlierer verachten mich, weil sie auch gerne schöne Dinge hätten. Oft denke ich, Keesy, wenn wir nichts Schönes bewundern könnten, was hätten wir dann noch? Selbst diese Penner: Wenn sich ein hübsches Mädchen zu ihnen umdreht und sie anlächelt, ist ihr Leben wieder im Lot. Das Gesicht einer schönen Frau und ein gutes, hübsch gestriegeltes Pferd kurz vor dem Start: Diese Dinge sind nicht von Dauer. Das Gesicht von Elizabeth Taylor. Von Brooke Shields. Ein paar Freunde sagen, du würdest aussehen wie sie. Aber ich finde, du bist hübscher. Ich mag ihre Augenbrauen nicht. Keesy, wir halten hier mal kurz an.« Er parkte vor dem Supermarkt Los Precious
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