Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
ersten Mal krank, und es stellte sich schnell heraus, dass ich den Rest meines Lebens Medikamente nehmen muss. Ich konnte die Kleine nicht mal im Arm halten. Ich hatte Angst, sie fallen zu lassen. Ich fühlte mich wie ein Versager. Ich wollte bei meinem Kind sein, aber ich wusste, dass es mir nicht gutging, ich weinte die ganze Zeit, und ich wusste, dass ich mich nie im Leben selbst um das Kind kümmern könnte.«
»Können wir noch einen Film gucken?«, fragte ich, und Peter schob eine seiner Videokassetten mit Punky Brewster ein. Ich glaube, Peter mochte die Serie genauso gerne wie ich; er meinte, die Beziehung zwischen Punkys Adoptivvater Miguel und Punky erinnere ihn immer an uns.
Mommy fuhr fort: »Und ich habe Schuldgefühle, weil ich so viele Kosten verursache. Jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus muss, kostet es Louie rund tausend Dollar.«
»Wer ist es denn, der dich krank macht?«, fragte Peter und setzte sich in seinem Stuhl auf. »Er doch wohl. Er misshandelt dich körperlich und seelisch! Er bearbeitet dich so lange, Sandy, bis du glaubst, dass du nichts wert bist, dabei liegt es in Wirklichkeit an ihm! Mit ihm stimmt etwas nicht! Sandy, ich stelle dir jetzt mal eine Frage: Warum verlässt du diesen Mann nicht ein für alle Mal? Verlass ihn und such eine Wohnung für dich und Margaux! Du bist eine attraktive Frau. Du kannst jemand anders kennenlernen.«
»Ach, Peter, danke, du bist so nett, aber die Wahrheit ist doch, dass ich Übergewicht habe und kein Mann mich nehmen würde. Ich weiß nicht, wie man mit Geld umgeht, und ich habe keine Ahnung vom Haushalt: In meiner Kindheit in Westport hatten wir ein Hausmädchen. Und dann die ganzen Krankenhausrechnungen, die er bezahlt …«
»Mit dem Sozialhilfegeld von dir und Margaux!« Meine Mutter bekam außer dem Scheck der Sozialversicherung für sich auch einen für mich, da sie wegen ihrer Geisteskrankheit als behindert galt.
»Ja, schon, von unserem Geld, aber trotzdem. Er kümmert sich ja trotzdem um die Medikamente, er kocht das Essen und … und ich bin krank.« Sie schaute ins Aquarium. »Ich bin nicht lebenstüchtig; ich muss immer wieder ins Krankenhaus. Ich meine, das Gericht würde einen Blick auf meine Vergangenheit werfen, würde sehen, dass ich immer wieder in der geschlossenen Anstalt war, und ihm das Sorgerecht zusprechen. Man würde sie mir nehmen, Peter.«
»Nicht wenn du vor Gericht beweisen kannst, dass er dir und Margaux gegenüber gewalttätig ist, Sandy«, sagte Peter und legte sanft die Hand auf Mommys Arm.
5
Höher, höher
Als es richtig kalt wurde und wir gezwungen waren, mehr Zeit im Haus zu verbringen, war es an Peter, sich neue Spiele auszudenken. Keine Barbecues mehr mit Hot Dogs und gegrillten, auf Stöcke gespießten Marshmallows, keine Schwimmbadbesuche und keine Verfolgungsjagden mit dem Gartenschlauch, kein Baumklettern mehr. Die Winterluft machte meine Mutter träge; schon vom Weg zu Peter wurde sie so müde, dass sie mehr Zeit im Wohnzimmer verbrachte, wo sie mit Kopfhörer saß und die kreisenden Fische beobachtete (Peter ermutigte sie, das Aquarium zu betrachten, weil das angeblich ihren hohen Blutdruck senken würde), Briefe an Tante Bonnie verfasste oder in ihr Faktenbuch schrieb. Poppa hatte ihr eine furchtbare Frisur verpasst – durch ihre Medikamente waren ihr viele Haare ausgefallen. Ihr Gesicht war zwar gerötet, wirkte aber eingefallen. Nur bei Peter war sie ein klein wenig lebendiger, als hegte sie irgendeine zarte Hoffnung.
Inès war nicht gerade begeistert von der Anwesenheit meiner Mutter im Wohnzimmer, wenn sie gegen sechs Uhr von der Arbeit kam, sich das von Peter gekochte Essen aufwärmte und sich zum Lesen unter die goldbronzefarbene Lampe mit den wellenförmig verlaufenden roten Fransen setzte. Peter vertraute mir an, dass Inès nach einem ermüdenden Arbeitstag keine Lust hatte, sich unterhalten zu müssen, doch meine Mutter gehörte zu der Sorte Mensch, der jegliche Anspielung entging. Oft las Inès einfach weiter, während meine Mutter redete. Peter sagte, Inès sei mit der seltenen Gabe gesegnet, ihre Umgebung ausblenden zu können. »Ich kann das nicht«, sagte er einmal. »Ich wurde schon öfter für einen Polizisten gehalten; so wachsam nehme ich alles wahr, was um mich herum geschieht.«
Peter war fest entschlossen, mich zu beschäftigen und glücklich zu machen, obwohl wir meistens ans Haus gebunden waren: Mit Filmen, Brettspielen, sogar Schach, das er mir beibrachte, nach und nach,
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