Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
dämlich aussah und ich sie hasste. Weil er eine Jogginghose trug, keine Jeans. Weil ich jetzt kein Kaninchen mehr war, sondern ein Tiger.
»Verschwinde, Jäger, hau ab, oder ich bringe dich um!«
»Du kannst nirgends hin, kleines Kaninchen! Nirgends … solange dir dein magischer Schneeschuh fehlt!«
Und er holte meinen Kangaroo -Turnschuh hinter dem Rücken hervor, und ich hatte ihn wieder lieb und begann zu weinen.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich gehe, ja?«, sagte er.
»Verlass mich nicht!« Ich stürzte unter dem Tisch hervor, stieß mir wieder den Kopf, diesmal schmerzhafter, und klammerte mich an seine Kleidung. »Geh niemals fort von mir!«
Er hielt mich fest. »Warum weinst du denn, mein Liebes? Es ist doch nur ein Spiel, mein Liebling.«
Ich weinte darum. Weil ich ihn hasste. Er hatte mich erschüttert, dieser kurze Gedanke, ihn umbringen zu wollen. Ich hatte ihn sterben sehen wollen, in einem Wirbel explodierender Mützenfetzen. Aber das konnte ich ihm nicht sagen.
»Ich weine, weil ich mir den Kopf gestoßen habe. Das tut weh. Und ich habe den Schuh verloren, und mein Fuß ist ganz kalt. Siehst du, es tut weh.«
»Ach, armes Baby, ich weiß, dass es wehtut, mein Liebling. Und ich sorge dafür, dass es besser wird, nur ich kann das. Ich habe die Socke, sie ist nass, aber ich habe sie. Ich habe den Schuh, es ist nur ein bisschen Schnee drin. Hier, wir machen ihn sauber. Alles ist gut, mein Baby, mein kleines süßes Baby, mein kleines Mädchen.«
»Es hört nicht auf. Das traurige Gefühl hört nicht auf.« Dann regnete es Küsse. Auf mein Haar. Mein Gesicht.
Er küsste jeden Zeh meines nassen kalten Fußes. Dann zog er die feuchte glitschige Socke darüber. Er schob den Turnschuh über den armen, traurigen Fuß und verband ihn mit mehreren rosa Klettverschlüssen.
10
»Mit diesem Mann stimmt etwas nicht«
In letzter Zeit hatte ich öfter daran gedacht, dass ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr mit Poppa geduscht hatte. Das Duschen machte Riesenspaß; wir warfen die Waschlappen auf den Boden und taten so, als seien sie Kakerlaken, traten darauf herum und sangen das alberne Lied La Cucaracha . Beim Duschen hatte ich den Unterschied zwischen mir und Poppa gesehen, aber mir nicht viel dabei gedacht. Inzwischen wusste ich nicht mehr, wie das, was Peter seinen »Babymacher« nannte, sich von Poppas Teil unterschied, deshalb fragte ich ihn eines Samstags, als Mommy zu einer Therapiestunde bei Dr. Gurney ging, ob wir zusammen duschen könnten wie früher.
Zuerst murmelte er, ich sei zu alt dafür. Aber ich bettelte, und schließlich gab er nach. In der dampfenden, dschungelähnlichen Hitze der Dusche starrte ich unweigerlich auf Poppas Penis. Er bemerkte meinen Blick und bedeckte sich mit den Händen. Durch unser Schweigen schien das Wasser noch lauter zu prasseln. Ich hatte das Gefühl, es müsse etwas gesagt werden, wusste aber nicht, was. Dann fiel mir etwas ein. Ich wusste nicht, was meine Worte bedeuteten, nur dass sie ausgesprochen werden mussten. Ich sagte sie mit meiner künstlichen Stimme des beliebten Mädchens.
»Poppa, ist das ein Spielzeug? Darf ich mal anfassen, bitte, bitte? Ist das dein Spielzeug, mit dem ich spielen kann?« Ich wusste nicht, wo ich diese Ausdrucksweise gelernt hatte, hatte aber das Gefühl, sie in- und auswendig zu kennen.
Poppa drehte sich zur Seite, die dünnen Beine gebeugt. »Nein«, murmelte er fast unhörbar. »Nein.«
Dennoch streckte ich die Hand aus, damit er ein gutes Gefühl bekam. Wie konnte er nein sagen, wenn dieser besondere Körperteil doch auch mir gehörte? Schließlich war er mein Vater. Poppa schlug meine Hand fort und drehte die Hähne zu. Er stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, zog sich an, alles schweigend. Dann legte er für mich ein Handtuch auf den Boden vor der Wanne und verließ das Badezimmer.
***
Irgendwann im Winter nach dem Zwischenfall in der Dusche gab es das Drama bei Benihana . Wir gingen dort essen, zu viert; Poppa lud alle ein, wie er versprochen hatte.
Inès blieb zu Hause. Peter wollte zuerst auch nicht mitkommen, doch er wusste, dass er sich nicht weigern konnte. Eine Woche vor dem mit Poppa verabredeten Freitagabend probierte er einen alten Anzug an, den er seinen Hochzeits- und Beerdigungsanzug nannte. Er sah seltsam aus in Sakko und Krawatte. Als er Rasierwasser nehmen wollte, warnte ich ihn; er hatte es in einem Billigladen gekauft, und ich wusste, dass er für alle Zeit bei Poppa schlecht angesehen
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