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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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haben wir beide das gemein. Sie sind doch Goldschmied, nicht? Ich war Schlosser, bevor ich mich am Rücken verletzte.«
    »Haben Sie eine Ausbildung gemacht?«
    »Nein, ich bin Autodidakt. Ich hab mich durchgeblufft, mir alles in Büchern angelesen und durch die Praxis gelernt. Man kann wohl sagen, dass ich immer schon gut im Bluffen war. Durch Reden ist alles möglich.«
    Poppa nickte. »Eine nützliche Eigenschaft. Ich war auf der Berufsschule. Den Verlobungsring meiner Frau habe ich selbst angefertigt. Und sehen Sie die Ohrringe von meiner Tochter? Das ist auch meine Arbeit. Und mein Kreuz hier«, sagte er und tippte darauf.
    Die Kellnerin kam, um die Bestellungen aufzunehmen. Poppa ermutigte Peter, ganz nach Belieben von der Speisekarte zu wählen; er sei eingeladen. Peter schien es unangenehm zu sein; er entschied sich schließlich für Teriyaki-Hühnchen. Poppa bestellte für sich das Benihana -Spezial und für meine Mutter und mich eine zweite Portion zum Teilen. Das Benihana -Spezial bestand aus einem Teriyaki-Steak und einem Hummerschwanz.
    Poppa musste zur Toilette, und sobald er außer Reichweite war, tätschelte meine Mutter Peters Hand. »Das machst du gut«, sagte sie.
    »Das hoffe ich doch«, sagte Peter.
    »Hast du gesehen, wie viel Sake er getrunken hat? Und ich denke, er hat sich schon zu Hause was eingeschenkt …«
    »Kann gut sein«, sagte Peter, zu nervös, um schlecht über Poppa zu reden.
    »Pass mal auf«, sagte ich, beugte mich vor und gab Peter einen Kuss auf die Wange. »Der gibt dir Kraft.«
    »Oooh!«, machte meine Mutter. »Den konntest du jetzt gut gebrauchen.«
    ***
    Als Poppa zurückkehrte, servierte die Kellnerin bereits die Vorspeise: Zwiebelsuppe. Poppa bedankte sich für die schnelle Bedienung und sagte dann in überraschtem Tonfall: »Peter, Sie tragen ja gar keine Uhr! Ich könnte Ihnen eine machen. Ich persönlich finde es unverzeihlich, wenn man zu spät kommt.« Er lächelte und trank einen Schluck Sake. Seine Zwiebelsuppe hatte er an meine Mutter weitergeschoben, damit sie sie aß. »Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie keine Uhr tragen? Ja, überhaupt keinen Schmuck?«
    »Ich mag es nicht, etwas am Arm zu haben. Ich habe noch nie gerne Schmuck getragen. Was das Zuspätkommen angeht: Ich bin meistens viel zu früh da. Ich habe Sandy schon mal erzählt, dass ich als Jugendlicher einen Anruf vom Krankenhaus bekam, wo meine Mutter im Sterben lag. Ich müsse ganz schnell hin. Eine Viertelstunde, bevor es zu Ende ging, war ich da. Seitdem hetze ich mich nicht mehr gerne ab. In gewisser Hinsicht fand ich es gnädig von Gott, meine Mutter von all ihrem Leiden zu erlösen. Nach einem Schlaganfall war sie linksseitig gelähmt, vier Jahre lang. Es war so schrecklich. Sie war vorher eine wunderschöne Frau gewesen. Zu ihrer Zeit war sie sogar Model für Barbizon .«
    »Wirklich?«, sagte Poppa. Der japanische Chefkoch mit der hohen weißen Kochmütze gab heißes Öl auf die Metallplatte. »Und Ihr Vater?«
    »Mein Vater war Anwalt. Er hatte so viel Geld, dass er sich ein eigenes Flugzeug leisten konnte. Bekam einen Herzinfarkt am Steuer und starb mit nur vierundvierzig Jahren.«
    »Es ist traurig, wenn jemand so jung stirbt«, bemerkte Poppa und beobachtete, wie der Koch die Ingwer-Senf-Sauce in die achteckigen Schalen goss. »Aber immerhin scheint Ihr Vater ja wie ein Mann gestorben zu sein. Auf dem Höhepunkt seines Lebens, bei der Ausübung dessen, was ihm Spaß machte, oder?«
    »Mein Vater war ein richtiges Schwein, wenn ich das sagen darf. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass es mir nicht leidtat. Aber ich liebte meine Mutter.«
    »Nun, es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Sohn seinen Vater im Stillen verachtet, ihm vielleicht sogar den Tod wünscht. Ein Sohn muss für seinen Vater keine Zuneigung empfinden, er muss ihn nur als Familienoberhaupt akzeptieren. Ich habe meinen Vater nie herausgefordert, ihm nie Ärger gemacht. Dann starb er. Meine Brüder waren schon aus dem Haus, und so wurde ich mit zehn Jahren zum Mann. Wenn der Vater stirbt, muss der Sohn ihn mit allem, was er hat, ersetzen, sein Gedächtnis ehren, ohne zu weinen. Ich habe meinen Vater geachtet, auch wenn ich ihn vielleicht nicht geliebt habe … Mit der Mutter ist das etwas anderes; ein Sohn muss seine Mutter über alles lieben«, erklärte Poppa.
    Die Kellnerin räumte unsere leeren Suppenschalen ab und servierte dann Salat mit Ingwer-Dressing in Holzschüsseln. Poppa hatte meiner Mutter und mir

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