Timeless: Roman (German Edition)
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»Süße, da ist niemand, auf den deine Beschreibung passt«, sagte Sam.
Stella sah ihre Eltern ungläubig an und deutete auf Michele. »Aber sie steht doch direkt neben euch.«
»Liebes, wir sehen niemanden«, erwiderte Clara mit einer entschuldigenden Handbewegung.
Stella wurde blass, und ihr Blick wanderte zwischen Michele und ihren Eltern hin und her, offensichtlich fassungslos, dass Michele für andere unsichtbar war. Stella zwang sich zu einem Lachen und versuchte, ihre Panik vor ihnen zu verbergen.
»Nun, ist ja auch egal«, sagte sie leichthin. »Ich habe einfach … Hunger, da habe ich wohl Gespenster ge sehen.«
»Gleich nach der Grabrede gehen wir Essen«, versicherte Sam ihr. »Komm zu uns rüber.«
Stella gehorchte, stellte sich aber so weit weg von Michele wie möglich und warf ihr immer wieder ängstliche Blicke zu.
»Ist schon gut. Ich tu dir nichts. Ich kann es dir erklären«, rief Michele ihr zu und versuchte, beruhigend zu klingen, doch Stella wandte den Kopf ab und tat so, als habe sie es nicht gehört.
In diesem Augenblick traf der Pfarrer ein. Während der Trauerfeier ließ Michele ihre Gedanken schweifen. Wo mochte Philip nur sein? Ging es ihm gut? War er in New York? Wann würde sie herausfinden, was mit ihm geschehen war?
»Mein Onkel Irving war ein Mann, der nicht in seine Zeit gehörte.«
Bei diesen Worten hob Michele ruckartig den Kopf. Ein blonder Mann in mittleren Jahren hielt gerade seine Rede und blickte auf die Notizen in seiner Hand.
»Wir alle wissen, dass er ein glänzender Anwalt war. Wir wissen aber auch, dass er sehr exzentrisch war.« Bei diesen Worten fingen die Trauergäste an zu lachen. »Mein Onkel war besessen von der Zeit – Zeit großgeschrieben, wie er es nannte. Er glaubte an die Zukunft. Er sagte, dorthin gehöre er, dort liebe er. Das war Teil seiner fantasievollen Exzentrik. Aber Onkel Irvings Leidenschaft für die Zukunft beruhigt mich auch, denn ich weiß, dass er sich jetzt dort befindet: in seinem Zukunftshimmel.« Lächelnd trat der blonde Mann einen Schritt zurück, und die Trauergemeinde applaudierte und murmelte zustimmend.
Micheles Herz klopfte zum Zerspringen. Ihre Gedanken rasten und gaben ihr die Antwort, die ihr zu unglaublich erschien, um wahr zu sein. Sie sank zu Boden, kaum mehr fähig, die restliche Trauerfeier zu verfolgen. Immer musste sie an die Worte von Irvings Neffen denken: Er glaubte an die Zukunft. Dorthin gehörte er, wie er sagte, und dort liebte er .
Warum hatte Irving Henry sie sehen können? Warum hatte er den Schlüssel an ihrer Kette so intensiv angestarrt? Warum hatte er sie angesehen, als sehe er einen Geist? Warum war ihr sein Gesicht irgendwie bekannt vorgekommen?
Weil er mein Vater ist.
Michele schlang die Arme um die Knie, denn sie zitterte von Kopf bis Fuß. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der junge Mann, in den sich Marion verliebt hatte, der den Namen Henry Irving trug und sich so sehr von den anderen jungen Männern der 1990er zu unterscheiden schien … war niemand anderer als der Mann, der heute beerdigt wurde. Das bedeutete, dass sie einen Vater aus dem 19. und eine Mutter aus dem 20. Jahrhundert hatte. Das war unvorstellbar. Aber sollte das etwa weniger möglich sein als meine Anwesenheit hier?
18
N ach der Beerdigung folgte Michele den Windsors wie benommen zum Wagen. Ihr schwirrte noch immer der Kopf, so sehr hatte ihre Entdeckung sie erschüttert. Als Stella sah, dass Michele in den Chrysler stieg, verkündete sie, sie würde mit Tante Lily heimfahren. Der Chrysler erreichte Windsor Mansion vor Lilys Wagen, und Mi chele nutzte die Gelegenheit, in ihr Schlafzimmer hinauf zueilen – oder vielmehr in das von Stella. Sie konnte es nicht abwarten, in ihre eigene Zeit zurückzukehren.
Als Michele die Schlafzimmertür aufriss, nahm sie alle Veränderungen in sich auf. Lilys im Art-Déco-Stil ausgestattetes Schlafzimmer war völlig umgestaltet worden und sah jetzt fröhlich-kitschig aus, ganz im Stil der 1940er-Jahre. Auf dem Schreibtisch stand ein leuchtend rotes Telefon mit Wählscheibe, und an einem Ehrenplatz befand sich ein breiter Tisch mit einem Radio und einem Fonografen. An den Wänden prangten Poster von Frank Sinatra, Judy Garland und der Glenn Miller Army Force Band. Überall im Raum standen gerahmte Fotos von Stella mit einem schlaksigen, gut aussehenden jungen Mann in Uniform. Der Kalender auf ihrem Schreibtisch zeigte Mai 1944.
Michele ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen
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