Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
Reisetaschen behilflich zu sein. Niemand beachtet mich, doch das überrascht mich nicht. Als Sohn eines Butlers bin ich in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass meine Rolle im Leben eine eher unauffällige ist.
Ich höre mich »Oh Susanna« pfeifen, während ich den Bahnhof durchquere, mich durch die Menge von Männern und Frauen dränge, die zu ihren jeweiligen Bahngleisen eilen. Vor mir schleifen die langen Röcke der Frauen über den Boden, während Kinder in ihrer besten weihnachtlichen Festtagskleidung an die Hand ihres Kindermädchens geklammert nur mit Mühe folgen können. Hin und wieder entdecke ich Studenten wie mich, die zu ihren Zügen laufen, und als ich jemanden sehe, auf dessen Weste das Logo meiner Universität, der Cornell, eingestickt ist, hebe ich grüßend die Hand an den Hut.
Ich wappne mich gegen die Kälte, ehe ich die Türen öffne, die auf die Forty-Second-Street hinausführen. Natürlich weht ein beißender Dezemberwind, und wirbelnder Schnee fällt aus dem dämmrigen Himmel. Hansoms und Pferdebusse sind vor dem Bahnhof angespannt, und ich springe in den ersten freien Wagen.
»Fröhliche Weihnachten! 790 Fifth Avenue bitte.«
»Bist du dir bei der Adresse sicher, mein Junge?«, fragt der Kutscher skeptisch.
»Natürlich bin ich das«, gebe ich zurück und schlucke den vertrauten Ärger hinunter. Diese unverhohlene Überraschung legen die Leute jedes Mal an den Tag, wenn sie hören, dass ich die Windsors persönlich kenne.
»Wenn du es sagst.«
Der Kutscher lässt die Peitsche knallen, und wir fahren los! Ich halte mich innen am Türgriff fest, damit ich nicht auf meinem Sitzplatz hin und her geschleudert werde, als das Pferd in schnellem Trab über das Kopfsteinpflaster klappert.
Wir fahren Richtung Norden, vorbei an einem hell erleuchteten Sandsteinhaus nach dem anderen, und ich kann nicht anders als zu lächeln; überall in den Fenstern funkeln geschmückte Tannenbäume. Während wir uns der Fifth Avenue nähern, füllen sich die Straßen immer dichter mit Pferdekarren, Fuhrwerken und Kutschen, und Fußgänger in ihrer besten Festtagspracht überqueren die Straßen. Endlich sehe ich die majestätischen neugotischen Mauern der St. Patrick’s Cathedral und weiß, dass wir 790 Fifth Avenue fast erreicht haben. Doch in diesem Augenblick verschwimmt alles vor meinen Augen, ich blinzle ein paar Mal und reiße die Augen dann weit auf.
Das New York, das ich vor mir sehe, ist nicht wiederzu erkennen, einfach unfassbar. Ich sitze noch immer in einem Pferdetaxi, durch dessen Fenster ich St. Patrick’s sehen kann, doch die Kirche hat jetzt zwei wundervolle Turmspitzen, die einen Augenblick zuvor noch nicht da gewesen sind! Die Häuser reichen unglaublich weit in die Höhe, als wollten sie bis in den Himmel ragen. Die Straßen sind aus glattem Beton, nicht mehr aus Kopfsteinpflaster, und die Fahrzeuge darauf fahren von selbst – weder werden sie von Pferden gezogen, noch brauchen sie Kabel oder Gleise! Diese Fahrzeuge sind ganz anders als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Derweil reihen sich auf der Fifth Avenue, die zuvor eine exklusive Wohngegend war, Block an Block neue, unbekannte Geschäfte und Gewerbegebäude aneinander. Am schockierendsten sind die Menschen, vor allem die jungen Frauen. Sie laufen ohne Begleitung durch die Straßen und tragen sogar Hosen!
Ich kneife die Augen zusammen. Als ich sie schließlich wieder öffne, bietet sich mir wieder das gewohnte Bild. Erleichtert atme ich auf.
Solche Visionen quälen mich schon, seit ich ein kleiner Junge war. Irgendwie sehe ich eine Stadt nicht nur so, wie sie ist, sondern auch so, wie sie sein wird . Ich habe noch niemandem von diesen Visionen erzählt, nicht einmal meinem Vater, als er noch lebte. Zu groß war meine Angst, er würde mich für verrückt halten.
Aber ich muss gestehen, dass ich manchmal sogar hoffe , diese verstörenden Visionen mögen wiederkommen und mich einen weiteren Blick in die Zukunft erhaschen lassen. Ich glaube, dass ich zum Entdecker, zum Wissenschaftler geboren bin, und meine häufigste Klage ist, dass ich zu früh geboren wurde. Ich lebe in einer zu primitiven Zeit – für mich ist der Gedanke unerträglich, mit den anderen Geistern des 19. Jahrhunderts zurückzubleiben und all die unglaublichen Fortschritte und Erfindungen zu verpassen, die in ferner Zukunft warten.
Kurz darauf erreichen wir die Millionärsmeile, jenen Teil der Fifth Avenue, auf dem die gigantischen Anwesen miteinander
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