Timm Thalers Puppen
geistlicher Herr.
Nun, da er uns die Köpfe wenden sah, trat er vor, so daß die schlanke hohe Gestalt in vollem Licht dastand, und sagte:
»Der Regen, meine Herren, trieb mich vor Ihnen in diesen Schuppen. Ich machte mich durch Räuspern bemerklich, um Sie nicht zu erschrecken. Im Dunkel oder besser: im
Halbdunkel erschrickt man ja sehr leicht. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Padre Ambrosio von der Gesellschaft Jesu.«
Wir erhoben uns, stellten uns ebenfalls vor und nötigten den Padre in einen Liegestuhl hinein, den Timm für ihn
aufgeklappt hatte.
Meine Augen hatten sich mittlerweile an das Licht im Schuppen gewöhnt. Ich sah deutlich die schmalen Hände des Padre, die leicht abgestoßenen Ränder der Ärmel seiner Soutane und die unförmigen Stiefel, die am unteren Ende des Liegestuhls unter dem Soutanensaum vorstanden.
»Das ist ein Wetter für die Bauern«, sagte der Padre jetzt.
»Wachswetter, Kürbiswetter, Gerstenwetter.«
»Doch leider kein Touristenwetter«, sagte Timm.
Der Padre breitete ratlos seine Hände aus. »Wem soll der, der das Wetter macht, es recht machen?« fragte er. »Dem Landmann, der das Brot anbaut, oder dem Städter, der nach grauen Mauermonaten die Sonne sucht?«
Ein plötzlicher Regenschwall ging trommelnd auf das
Schuppendach nieder. Dann war wieder gleichmäßiges
Prasseln zu hören, und Timm antwortete: »Dem Menschen, Padre, braucht niemand es im Grunde recht zu machen. Er kommt in allen Gegenden und Temperaturen auf dieser Erde zurecht.«
»In Erfüllung des Gebotes: »Füllet die Erde und machet sie euch Untertan«, sagte Padre Ambrosio. »Erstes Buch Moses, erstes Kapitel, Vers achtundzwanzig.«
»So kann man es sich zurechtlegen«, meinte Timm. »Aber es hat wohl auch mit der Anpassung zu tun. Wer sich nicht anpaßt, kommt in der Natur ja um.«
»Und ebenfalls in der Gesellschaft«, sagte, die schmalen Hände ineinanderlegend, Padre Ambrosio.
»In der Gesellschaft?« fragte Timm aus seinem Liegestuhl.
Dann gab er sich selbst zur Antwort: »Ah ja, natürlich, auch in der Gesellschaft, Padre. Auch in der Gesellschaft. Ich kann darüber sogar eine Geschichte erzählen.« Timm stellte seinen Liegestuhl jetzt so ein, daß er mehr saß als lag, und fuhr dann fort: »Da anzunehmen ist, daß es noch eine Weile regnen wird, kann meine kleine Geschichte vielleicht dazu dienen, die Zeit zu verkürzen. Sprechen Sie Deutsch, Padre?«
Die beiden hatten bis zu diesem Augenblick italienisch miteinander gesprochen. Ich hatte mich deshalb in das Gespräch nicht eingemischt. Ich spreche ja nur kümmerliches Italienisch. Nun aber, als Padre Ambrosio antwortete, daß er, in Köln am Rhein geschult, der deutschen Sprache mächtig sei, wurde deutsch gesprochen, und Timm sagte, gerade als ein erster Blitz über dem Meere niederging und Donner folgte:
»Meine Geschichte, Padre, spielt in Köln am Rhein, wo Sie geschult wurden und vielleicht auch die Weihen empfingen.«
»Dann ist es eine Geschichte, die mir nicht nur zur
Kurzweil, sondern auch zur Erinnerung dient«, sagte mit einem Lächeln, das man hören konnte, Padre Ambrosio. »Sie beschenken mich doppelt.«
»Vorausgesetzt, daß Ihnen die Geschichte auch gefällt«, sagte Timm Thal er.
Dann erzählte er uns im Schummerlicht vom aufgerichteten Liegestuhl aus die Geschichte:
Die verkaufte Menschenliebe
oder
Wer sich nicht anpaßt, der kommt um
In den Tagen des Wohlstands überkam den
Apothekergehilfen Joseph Köster in Köln am Rhein, einen vierzigjährigen Mann, der sich auch von der Gesellschaft der Zeugen Jehovas angezogen fühlte, eine Art Vision.
Als am Dienstag nach Ostern die Frau des Schrotthändlers Marx wieder einmal eine Einkaufstasche mit meist unnützen Medikamenten füllte, Medikamenten, deren Preis das
Monatsgehalt Joseph Kösters überstieg; als ein am Kopf blutendes kleines Mädchen in die Apotheke gestürzt kam und schluchzend berichtete, ein ihm unbekannter Junge habe es geschlagen; als Joseph Kösters Frau in der Apotheke anrief und erzählte, ihre Nachbarin, die Schmitze, seien in Italien in eine Schlucht gestürzt, samt ihrem nagelneuen Wohnwagen,
»und alle tot«; als alles dies an einem einzigen Tag, dem Dienstag nach Ostern, geschah, überkam den Joseph Köster ein Gesicht. Er sah, ohne daß die Glocke über der Tür gebimmelt hätte, jemanden in die Apotheke eintreten, jemand Unbestimmtes, aber mehr Mann als Frau, mehr jung als alt, mehr zart als kräftig. Dieser Unbestimmte ging auf
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