Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
die Garage geschoben worden. Die Elektrische hatte ich in die Remise zurückgefahren. Die Droschke war zu Pfausers hinausgeschleppt worden. Den großen Schlauch hatten wir wieder auf die Feuerspritze gerollt; jedes Ding war an seinem Platz.
Und die Piratengefahr war endgültig beseitigt. Die Piraten, die in den Reckenwald geflohen waren, hatten, völlig verängstigt und verhungert, noch am selben Abend nach der Schlacht eine Abordnung zu Thomas geschickt und reumütig um Aufnahme in die Schutztruppe gebettelt. In der großen Versammlung, die wir einberufen hatten, war einstimmig beschlossen worden, die Piraten probeweise für einen Tag in die Schutztruppe einzureihen. Wenn sie sich bewährten, sollten sie begnadigt werden. Alle Gefangenen wurden freigelassen.
Nur Oskar, Willi und Hannes blieben in ihrer Zelle eingesperrt, wo sie auch die Nacht verbringen mussten. Wir wollten über sie zu Gericht sitzen.
Die große Gerichtssitzung fand im Tattersall statt. In dem früheren Hauptquartier der Piraten. Wir hatten uns diese wichtige Amtshandlung vorher genau ausgedacht. Alle Kinder, die von der Arbeit abkömmlich waren, mussten zur Verhandlung erscheinen. Die Halle war gesteckt voll. Die Kinder füllten die Bänke bis auf den letzten Platz. Sie saßen ordentlich und andächtig da und tuschelten nur leise miteinander. Das summte und brummte wie sonst in der Schulaula, bevor Federwischer eintrat. Ich saß mit Thomas und sämtlichen Kommandanten in der Mitte der Sandarena. Wir hatten Stühle herbeigeschleppt und davor eine Reihe von Kisten aufgestellt. Uns gegenüber stand die Anklagebank. Thomas führte den Vorsitz. Ich sollte gegen Oskar und seine Adjutanten die Anklage erheben. Die Kommandanten waren die Richter. Rechts von Thomas saß Marianne, links ich. Der kleine Heinz war auch da. Er konnte, auf einen Stock gestützt, schon ganz gut humpeln. Marianne hatte ihm einen riesigen Verband um den kranken Fuß gewickelt. Heinz Himmel war sogar mächtig stolz auf seine Kriegsverletzung. Er erzählte sehr gerne immer wieder von seinem kühnen Sprung auf das Dach der Elektrischen. Thomas hatte ihn zum Oberkommandanten ernannt. Heinz thronte gleich neben Marianne hinter dem Richtertisch. Wir hatten ein großes grünes Tuch ergattert und über die Kiste gelegt. Wir hatten auch, wie die Piraten es früher machten, Kerzen angezündet, obwohl es noch ziemlich hell war. Es sah feierlich aus. Ludwig Keller hatte den Gong mitgebracht und vor sich aufgestellt. Hinter Thomas’ Stuhl hatten wir eine Stange in den Sand gesteckt. An dem oberen Ende war ein Pappschild mit dem Wappen von Timpetill befestigt. Ringsum, dicht an der Barriere, stand die neugebildete Schutztruppgarde. Das waren die größten und kräftigsten Jungen von Timpetill. Sie waren mit ganz dicken Haselnussstöcken ausgerüstet, die sie wie Gewehre schulterten.
Ludwig Keller schlug auf den Gong. Sofort wurde es still in der Halle. Thomas stand auf.
»Bringt die Gefangenen herein!«, rief er laut.
Der Gardehauptmann der Schutztruppe, Friedrich Andermutz, klatschte in die Hände. Die kleine Tür in der Seitenwand, durch die Thomas und ich damals hereingeschlichen waren, öffnete sich. Zuerst marschierten zehn Mann der Schutztruppe auf. Sie postierten sich links und recht von der Tür bis zur Sandarena. Dann wurden Oskar, Hannes und Willi von der Bewachungsmannschaft hereingeführt. Sie blieben einen Augenblick erschrocken stehen, als sie die Massenversammlung der Timpetiller Kinder erblickten.
Thomas rief: »Bringt die Angeklagten vor das Gericht!«
Oskar und seine Adjutanten mussten der Bewachungsmannschaft in die Sandarena folgen und wurden auf die Anklagebank gesetzt. Die Schutztruppler blieben hinter ihnen stehen.
Ludwig Keller schlug drei Mal donnernd auf den Gong. Ich erhob mich und schob meine Brille zurecht. Das war aber eigentlich nicht meine Brille; die war in der Schlacht kaputtgegangen. Ich hatte mir einen alten Kneifer meines Vaters aufgesetzt, denn ohne Augengläser hätte ich die Anklageschrift nicht lesen können. Der Kneifer saß sehr locker und drohte mir jeden Augenblick von der Nase zu rutschen. Deswegen hielt ich ihn mit einer Hand fest, in die andere nahm ich das Schriftstück.
»Oskar, Sohn des Fleischermeister Stettner, erhebe dich!«, begann ich. Oskar sprang auf. Unsere Gerichtssitzung machte großen Eindruck auf ihn.
»Ich klage dich an, schlimme Verbrechen begangen zu haben!«, fuhr ich fort. »Du hast die Kinder aufgehetzt und sie
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