Tinnef
unter dem Tisch. Bronstein ging seine Optionen durch und wagte es schließlich, einen haptischen Versuch in Richtung dieser Hand zu starten. Ganz vorsichtig tastete sich seine eigene Hand vor, berührte endlich den Ballen von Marie Carolines Hand und fand, zu seiner übergroßen Freude, freundliche Aufnahme. Für den Rest der Vorstellung ruhte sie in jener Marie Carolines.
Als Bronstein den langen Heimweg hinaus nach Dornbach antrat, hatte er genügend Zeit, den Abend Revue passieren zu lassen. Nicht nur, dass sie rund siebzig Minuten konsequent Händchen gehalten hatten, nicht weniger als dreimal hatte das Fräulein von Ritter ihn von der Seite angesehen und dabei aufmunternd gelächelt. Am Ende des Cabaretabends hatte sie ihn zu seiner Auswahl beglückwünscht und ihm dabei einen Kuss auf die Wange gedrückt. Und vor dem elterlichen Wohnhaus schließlich war sie ganz nahe an ihn herangetreten, hatte ihre großen, unschuldigen Augen von unten auf ihn gerichtet und gemeint, sie wäre sehr entzückt, wenn er ihr auch am Wochenende Gesellschaft leistete. Unmittelbar nach seiner Zustimmung zu ihrem Ansinnen war es neuerlich zu einem Kuss gekommen, der diesmal jedoch schon auf seinen Lippen gelandet war. Instinktiv memorierte Bronstein für sich die letzten Worte, die Marie Caroline nach seinem ab schließenden Handkuss an ihn gerichtet hatte: „Herr von Bronstein, ich fürchte, ich muss mehr aufpassen auf mich. Ich glaub, ich bin dabei, mich ein bisschen in Sie zu verlieben.“
Deutlicher konnte eine Gunstbezeugung gar nicht mehr ausfallen, wenn man ein ehrbares Frauenzimmer bleiben wollte. Bronstein war sich dessen bewusst, dass es noch einiger Treffen bedürfen würde, ehe man sich endlich wirklich ein wenig näherkommen konnte, doch immerhin schien sie gewillt, diesen Weg mit ihm gemeinsam zurückzulegen. Die körperliche Distanz würde mit jeder Begegnung etwas geringer werden, um schließlich ganz auf null gestellt zu sein. Und dann, irgendwann in ein, zwei Monaten, käme unweigerlich der Augenblick, da sie einander um den Hals fallen und sich innig liebkosen durften. Mit ein wenig Glück würde man hernach im Mai nach Baden oder Ischl fahren, wo man dann mit noch etwas mehr Glück in einem unbeobachteten Augenblick ein Zimmer teilen konnte, abseits von Gouvernanten oder anderen Aufpassern. Und dann bekäme man einen Vorgeschmack auf die Freuden ehelichen Zusammenseins. Lief also alles in die gewünschte Richtung, dann konnte er in längstens drei Monaten seine Qualitäten als Liebhaber unter Beweis stellen. Und wenn diese seine Leistung kein absolutes Fiasko wurde, dann schien es nicht ausgeschlossen, dass man spätestens im Frühherbst bei einem schmucken Galadiner die Verlobung bekanntgeben konnte. Ja, und im Mai des Folge jahres würde es dann heißen: „Treulich geführt, ziehet dahin …“
Bronstein wurde bei diesen Gedanken so warm ums Herz, dass er unwillkürlich seinen Mantel öffnete. Sogar die Schneeflocken, die ihn mehr und mehr umwolkten, schienen an seinem Glück Anteil nehmen zu wollen, denn sie tanzten leicht auf seinen Schultern und boten ihm ein romantisches Schauspiel, das gleichwohl nur die Ouvertüre zu einem erfüllenden Wochenende sein würde, wie er inständig hoffte.
VI.
Montag, 17. Februar 1913
Beschwingt betrat Bronstein sein Büro am Deutschmeisterplatz. Was war das für ein Wochenende gewesen! Der anhaltende Schneefall hatte es ihm und Marie Caroline ermöglicht, in den Praterauen wie kleine Kinder herumzutollen. Zuerst waren sie am zugefrorenen Heustadelwasser Schlittschuh gelaufen, dann hatten sie am Fuße des Konstantinhügels einen Schneemann gebaut, und schließlich war es Bronstein noch gelungen, einen Jungen dazu zu überreden, ihnen für einen kurzen Augenblick seine Rodel zu leihen. Lachend hatte Marie Caroline vorne Platz genommen, Bronstein saß hinten auf und schob sich so nah als möglich an ihren Körper heran, um die Steuerschnur gut in der Hand halten zu können. Selbst zwei Tage später roch er noch ihr betörendes Parfum und spürte die sanfte Rundung ihrer Hüften an seinen Unterarmen. Als sich der Schlitten ratternd in Bewegung gesetzt hatte, war sie, immer noch lachend, nach hinten gefallen, sodass ihr Kopf auf Bronsteins Schulter zur Ruhe kam. Bronstein vermochte immer noch nicht zu sagen, was ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen war, aber er erinnerte sich deutlich an den sanften Kuss, den sie auf seinen Unterkiefer gedrückt hatte. Und noch
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