Tintorettos Engel
Heilmittels einsetzte.
Da ließen die Ärzte ihrer Phantasie freien Lauf. Sie sagten, Marietta habe Atemprobleme, da ein unrhythmisches Geräusch in ihrem Herzen zu hören sei. Sie verschrieben ihr alle möglichen Umschläge, Abführmittel, Einläufe, Rhabarber- und Lakritzpillen, Wermutwasser, Wasser mit Borretsch und Zitronellgras, Fastenkuren, Fisch- und Fleischdiäten. Schließlich stellte sich heraus, dass Marietta eine Brille brauchte. Ihre Sehkraft war geschwächt.
Faustina gab mir die Schuld: All die Jahre, die sie in meiner düsteren Werkstatt mit irgendwelchen Experimenten und diabolischen Schattenspielchen zugebracht habe, hätten Marietta die Augen verdorben. Wer weiß, meinen Augen hat es nicht geschadet; ich sehe im Dunkeln wie eine Katze. Marco Augusta versuchte seine Frau zunächst mit Opalpulver zu behandeln, das die Sehkraft stärkt, dann mit purpurrotem Balasspulver, das mit Wasser verdünnt Augenleiden heilt. Da die Wissenschaft der Edelsteine jedoch zu keinem besseren Ergebnis führte, vereinbarte er schließlich einen Termin bei Venedigs bestem Brillenmacher Lorenzo All’Occhial Grande - hinter San Salvador in den Gassen der Mercerie. Marietta ging da jedoch nicht hin.
Die Brillenmacherin hatte ihren Laden im Viertel Ormesini in einer heruntergekommenen eingeschossigen Hütte mit nur einem Fenster. Im oberen Stockwerk wohnte sie mit ihrem Sohn, einem fettleibigen, rechthaberischen kleinen Knirps, der die Kinder aus der Gegend mit seiner mit Eisenkügelchen bestückten Steinschleuder in Angst und Schrecken versetzte. Sie war eine hochgewachsene, kantige Frau mit so schwarzen Augen wie die
einer Türkin und von kurz angebundener, geschäftsmäßiger Art. Alle nannten sie Zanetta. Dass sie mit Eisendraht und Gläsern umgehen konnte - obwohl sie eine Frau war -, musste man ihr jedoch lassen. Die Schürze fest umgeschnürt, schliff sie hinter der Werkbank die Gläser. Ob ihre Arbeit zum Leben reichte, weiß ich nicht. Männer vertrauen ihre eigenen Augen ungern Frauen an. Sie misstrauen ihnen - daher waren Zanettas Kunden vornehmlich Frauen.
Die Klatschweiber von San Marcilian erzählten, Zanetta benutze ihren Beruf als Köder. Nicht nur an Linsen würde sie schleifen, sondern auch an Männern. Und sie nehme gleich zwei auf einmal, da man ja auch zwei Augengläser brauche. Von zahlreichen Liebhabern, allesamt verheiratet und Familienväter, werde sie ausgehalten, mit einem Advokaten aber sei sie fest verbunden. Möglich, dass es stimmte. Möglicherweise aber war es eine gemeine Verleumdung. Marietta hat Zanetta immer in Schutz genommen.«Sie ist lediglich eine arbeitende Frau», ereiferte sie sich.«Wenn ich keinen Ehemann hätte, würden die Klatschweiber das Gleiche über mich sagen.»Im Grunde genommen war es völlig unwichtig. Dennoch würde ich es heute gern wissen. Am liebsten würde ich die Brillenmacherin fragen, warum sie sich ausgerechnet meine Tochter gekrallt und was sie mit ihr gemacht hat - denn Marietta hielt viel von ihr, Herr. Ihr schenkte sie den Hochzeitsring mit dem Diamanten. Noch vor wenigen Tagen habe ich ihn in Madonna dell’Orto an ihrem Finger gesehen.
Zanetta fertigte meiner Tochter eine Brille aus Gold an. Für das Rahmengestell wollte sie nicht wie üblich gewöhnliche Knochen nehmen - vom Rind oder Hammel. Auch kein Silber. Nein, für eine solch seltene Frau wie Marietta musste das wertvollste Metall her: Gold. Von Marco Augusta bekam sie zwei Diamanten, die sie in das Gestell einfasste - sie würden das Licht einfangen und ihre Augen zum Leuchten bringen. Die Linsen aber tönte sie mit einer grünen Schicht, da sie glaubte, dass zu grelles Licht
Mariettas Augen schade. Sie ließ sich die Brille teuer bezahlen. Mit strahlendem Lächeln kehrte mein Funke nach Hause zurück, auf der Nase das goldene Brillengestell mit den getönten Gläsern - eine absolute Neuheit für Venedig, die der Stadt zu großer Berühmtheit verhalf. Ich fand Marietta hinreißend schön mit ihren neuen Augengläsern. Sie gaben ihr ein unnahbares, geheimnisvolles Aussehen. Das gestand ich ihr allerdings nie.
Damit hätte diese Frau aus Mariettas Leben verschwinden können. Weit gefehlt. Die Brillenmacherin kam zwar nie zu uns nach Hause, aber Marietta ging zu ihr. Von Dominico erfuhr ich, dass Zanetta sie mit einem Portrait beauftragt habe.«Sie ist keine berühmte Frau», warnte ich sie,«du musst ablehnen. Frauen wie sie haben keine Zukunft, da sie auch keine Vergangenheit haben. Weißt du
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