Tintorettos Engel
meiner panischen Angst - die mich
nachts befiel, wenn ich schweißgebadet aufwachte -, Panik, nicht lange genug zu leben, um mein Vorhaben zu Ende zu bringen. Damals sagte ich mir unentwegt den Vers aus dem Johannesevangelium auf: Wenn ich will, dass er bis zu meinem Kommen bleibt, was geht dich das an? Das hieß in meiner Sprache: Du wirst leben, bis ich wiederkommen werde, Du wirst leben, bis ich wiederkommen werde, Du wirst leben, bis ich wiederkommen werde - und nach einer Weile konnte ich wieder schlafen.
Seit Jahren kam Marietta weder in meine Werkstatt herunter, noch nahm sie von ihren Kunden Aufträge an. Die letzten Gemälde, die bei ihr bestellt wurden, hat sie nie beendet. Irgendjemand beklagte sich deswegen einmal bei mir. Aber das war kein Grund zur Sorge: Alle Maler führten sich so auf. Dreißig Jahre wartete die Regierung auf ein Bild von Tizian und bekam es am Ende doch nicht; manche Kunden warteten bis zu fünf Jahre auf die Lieferung dessen, was sie längst bezahlt hatten. Dass ich meist prompt lieferte, war bekannt, aber letzten Endes konnte ich von Marietta nicht verlangen, mich in jeder Hinsicht nachzuahmen.
Mariettas Unschlüssigkeit aber war von anderer Art. Sie fing mit einem Bild an, arbeitete daran, legte es weg, zerstörte es, begann von Neuem, veränderte es und vernichtete es schließlich erneut. Immer hatte sie etwas auszusetzen, war etwas nicht gut gelungen und verbesserungsfähig: Und immer kam ihr wieder eine neue Idee. Vergeblich hatte ich ihr versucht beizubringen, dass der größte Künstler nicht der ist, der die besten Einfälle hat, am besten malt und koloriert, sondern der, der im richtigen Moment die Finger von der Arbeit lässt.
Laut Dominico hatte Marietta häufig Kopfschmerzen, weswegen sie den ganzen Tag im Bett verbrachte.«Was tut sie so?», fragte ich ihn zuweilen.«Nichts», erwiderte mein treuer Sohn,«sie ist in ihrem Zimmer, mit verschlossenen Fensterläden, im Dunkeln.»Ich hätte mir die Zeit nehmen und die Treppe hinaufsteigen sollen - die zwanzig kümmerlichen Stufen -, ich hätte
die Holzdecke, die uns voneinander trennte, überwinden und sie selbst fragen sollen, was los war und was sie vom Malen abhielt. Aber ich tat es nicht. Der Schlüssel zu ihrem Leben war mir abhanden gekommen. Marietta hätte mich ohnehin aufgefordert, meine Zeit nicht mit ihr und ihren Wehwehchen zu verplempern. Hätte ich doch viel Wichtigeres zu erledigen. Klar und deutlich höre ich jedes einzelne Wort, obwohl sie sie nie ausgesprochen hat.
Fabio Glissenti kam und stellte ein Herzleiden fest. Er verschrieb ihr Gewürznelken, Ruhe und absolute Enthaltsamkeit. Von der Therapie nicht sonderlich angetan, konsultierte der Juwelier einen anderen Arzt: Dieser diagnostizierte eine akute Form der Melancholie und verschrieb Spaziergänge und täglichen Geschlechtsverkehr, um ihren Blutkreislauf anzuregen. Noch ein paar Jahre zuvor hätte ich Marietta gern auf ihren therapeutischen Spaziergängen begleitet. Nun aber berührten sie mich nicht mehr. Meine Welt hatte sich ausgedehnt, ich hatte die Fondamenta dei Mori, meinen Raum, meinen Körper, meine Begrenztheit hinter mir gelassen. Ich wohnte nicht mehr in meiner Zeit und meinem Raum, sondern segelte durch das Mysterium des Lebens, durch die Weite des Kosmos. Faustina begleitete sie. Ich schloss die Tür zum Atelier und verlor mich in der verwunschenen Landschaft der Flucht nach Ägypten . Ich versteckte mich zwischen den Blättern und Bäumen meiner Leinwand, verwandelte mich zu einem blauen Wolkenstreifen, zu Dunst, Offenbarung, Licht.
Hin und wieder sah ich die beiden durch das Fenster. Hand in Hand liefen sie nebeneinanderher. Sie sahen aus wie zwei Schwestern. Meine Frau sorgte sich sehr um Marietta und stand ihr in jener Zeit sehr nahe. Obwohl Faustina Marietta gegenüber immer nachtragend war und sein wird, hat sie sie lieben können. Menschliche Beziehungen verhalten sich gegensätzlich zu den Gesetzen der Arithmetik: Die Summe der Summanden ergibt nie dasselbe Ergebnis, Herr. Faustina liebte meine Tochter - wenn auch unter
Schmerz und Groll, mit qualvollem Herzen, Eifersucht und Wut. Aber nie hat sie ihre Zuneigung verhehlt. Ich war es, der am Ende nicht mehr anders konnte. Mit einem dichten schwarzen Schleier um den Hut, der ihre Augen vor grellem Licht schützen sollte, spazierte Marietta mit meiner Gemahlin durch das Viertel, von einer Brücke zur anderen - bis durch die sommerliche Hitze die schädliche Nebenwirkung des
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