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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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mein Wunder gelegt hatte, war ich zwar berühmt, aber ohne Arbeit. Von den Lobesreden und der Gutmütigkeit meiner Verfechter geblendet, im Vertrauen auf eine glänzende Zukunft, verließ ich übereilt den feuchten Lagerraum jenseits des Rialtos und zog in das Cannaregioviertel, einen viel ruhigeren Teil der Stadt, in dem alle großen Maler Venedigs wohnten. Ich hatte gelernt, dass auch die Adresse etwas aussagte. Schluss mit den Huren und Straßenverkäufern, Schluss mit den Bäckern und Weinlieferanten, ich gesellte mich zur Schar der Auserwählten. Meine Nachbarn hießen Tiziano Vecellio, Paris Bordon, Bonifacio Veronese, Andrea Schivone. Ich ließ mich gegenüber von Madonna dell’Orto in einer Wohnung im alten Palazzo Cammello nieder: Die wenigen Zimmer waren eng, das geräumige Atelier aber glich einer Turnhalle - die nur darauf wartete, die wertvollen Aufträge, die mir bevorstanden, in Empfang zu nehmen.
    Doch, Herr, niemand bot mir Arbeit an. Da ich es nicht wahrhaben wollte, wartete ich über ein Jahr. Vergeblich. Einzig ein paar magere Angebote von geringem bis nichtigem Ansehen und karger Entlohnung trafen bei mir ein. Im Laufe der Zeit mischte sich ein herber Unterton unter die Lobesreden, man zweifelte
an meinem tatsächlichen Können, meinem Charakter, meinem Stil. Ich wurde verdächtig, war eine Art Krimineller, den man im Auge behielt, da er früher oder später einen Fehler beging, der ihn verraten würde. Die Erfolgsflut zog sich zurück und ließ mich wie eine tote Alge am Ufer liegen. Da verstand ich, dass mich Venedig umbringen konnte. Ich nahm mir vor zu fliehen, mir in der großen weiten Welt eine ebenbürtige Heimat zu suchen. Ich konnte nicht der sein, den Venedig wollte. Ich war ich und nicht austauschbar. Ich musste mich selbst finden - und das ganz allein. Venedig aber war die Stadt, die ich immer geliebt und immer gehasst habe. Venedig war mein Gegner und mein Schicksal. Jeder kämpft auf seinem Schlachtfeld, meines war Venedig.
    Ich blieb und nahm die Herausforderung an. Jahraus, jahrein wich ich Tag für Tag dem Beschuss durch meinen Gegner Tizian und seine Bande von Literaten aus. Nicht einen kurzen Moment haben sie mir Feuerpause gewährt. Mit allen Mitteln musste ich sie bekämpfen - und viel, vielleicht zu viel habe ich von mir in dieser Schlacht verloren. Stell dir auf der einen Seite ein in jeglicher Hinsicht - Anzahl, Bewaffnung, Stellung - besser gerüstetes Heer vor und auf der anderen Seite mich, der ringsum belagert wurde, während nach und nach die Lebensmittel knapp wurden und der Feind mein Brunnenwasser vergiftete. Also nutzte ich die Gunst der finsteren Stunde und schlug zu. Hinterrücks und mit unerlaubten, zuweilen giftigen Waffen. Und für dieses Gift, das ich streute, gab es kein Gegenmittel.
    Doch in Venedig war und blieb ich einer von vielen. Solange er lebte, stellten sie mich Tizian hintan, später Jacopo da Bassano und Paolo Veronese und sogar Palma, der mein Sohn hätte sein können. Stets haben mich Herrscher, Kaiser, ausländische Händler und Botschafter zuletzt angesprochen - und nie waren es bedeutende Aufträge. Jedes Mal bangten sie, ich könnte sie nicht zufriedenstellen, beauftragten mich nur probeweise - als müsste ich ihnen erst beweisen, etwas wert zu sein. All ihr Geld konnte ihnen
nicht die Augen öffnen und sie das Sehen lehren. Die Maler jenseits der Alpen und des Meeres aber haben sich für mich entschieden. Ihre Länder habe ich nie gesehen. Junge Maler aus Flandern, Deutschland und Griechenland durchquerten von Pest und Krieg zerrüttete Länder, um als meine Gehilfen zu arbeiten. Mit einer Mahlzeit am Tag gaben sie sich zufrieden, nur um von mir zu lernen. Graveure aus Italien, der Schweiz und Frankreich haben meine Werke vervielfältigt, sie in ihren Ländern verbreitet und dadurch meinen Namen bis ins Unendliche weitergetragen. Meine Gemälde haben Berge erklommen und das Mittelmeer bereist. Am Ende wurde ich der Maestro, der ich immer zu sein träumte.
    Dreißig Jahre habe ich gebraucht, um herauszufinden, dass die Straße vor mir frei war. Niemand ging mir voraus, niemand folgte mir. Aber da befand sich mein Leben schon auf dem absteigenden Ast - und das Kostbarste, was ich besaß, die Zeit, rann mir durch die Finger. Ich arbeitete viel - vielleicht zu viel. Nur auf diese Art hatte ich jedoch den Eindruck, das Rad aufzuhalten, einen Stock ins Getriebe zu rammen und dem Leben zu sagen: Halt an. Nur während ich malte, glaubte ich zu

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