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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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leben, Herr.
    Inzwischen hängt mein Stern fest am Himmel und geht nicht mehr unter. Alle Schwierigkeiten und Hindernisse, alle Missgunst und Hinterlist - alles hat sich so schnell von mir entfernt, dass es nur noch einem Märchen gleicht, nur noch Legende ist. Im Alter verwandelt sich die Vergangenheit in ein Land, in das man nicht zurückkann, da sie uns auf ewig daraus verbannt haben - und aus dem Exil des Jetzt kann man ihr zwar nachtrauern, aber niemals wieder zu ihr finden. Selbst in der Erinnerung existiert sie nicht mehr: Sie wendet sich ab und verändert ihre Form und Lage wie eine verloren gegangene Insel auf der Landkarte, die der Seemann vergeblich im Meer sucht. Wäre dies die Geschichte eines Krieges, müsste ich den Sieg feiern. Die Leidenschaft für den Sieg hat meine Kindheit beherrscht, meine Jugend erleuchtet und mich in reiferen Jahren geleitet. Indes kann ich mich nur noch für
die Niederlage begeistern, Herr. An ihr allein erkenne ich wahre Größe und Erhabenheit. Sowohl die menschlichen als auch deine Niederlagen. Mich interessieren diejenigen, die ihre Träume wie Seifenblasen zerplatzen und ihre Lieben sich wie Asche im Wind zerstreuen sahen - Opfer der Geschichte und des Zufalls, jene, die ihr eigenes Leben versäumt oder ihr Ende erreicht haben und sich dessen bewusst sind. Und Gott, der wie wir dazu verurteilt ist, hintergangen zu werden und zu sterben. Das allein vermag ich noch zu malen.
    Mein Stolz und meine Eitelkeit erscheinen mir heute unbegründet. Jetzt, da mich alle verehren, sehe ich nur noch meine Versäumnisse, das, was ich nicht erreicht habe und nicht mehr erreichen werde - die Wahrheit, die hinter dem flüchtigen Lächeln eines Alten, in seinen Augenfalten, der unveränderlichen Hautfarbe eines Toten, jenseits des letzten Hügels entgleitet, um sich hinter einem anderen Horizont versteckt zu halten.
     
    «Willst du wirklich nicht für seine Exzellenz und Hochwürden malen? Würden vielleicht fünfzig Dukaten etwas an deiner Meinung ändern?», fragte Kini, der meine Lust wecken wollte. Rotbart versuchte, seiner Enttäuschung, den letzten noch lebenden Meister Venedigs hier vor sich zu sehen, Herr zu werden: Er musste sich mit mir zufriedengeben und mich obendrein anflehen. Ich kam mir vor wie ein Stück Aas, um das diese Herren wie ein Schwarm Wespen herumschwirrten, als wollten sie meine sterblichen Überreste unter sich aufteilen. In über sechzig Jahren habe ich sechshundertfünfzig Bilder gemalt, von denen jedes einzelne einen Knochen meines Körpers darstellt, mancher so unverzichtbar wie ein Oberschenkelknochen oder ein Wirbel, so grundlegend wie das Schienbein oder so unbedeutend wie ein kleiner Fingerknochen. Alle sind ein Teil von mir, selbst die vielen, die ich nicht eigenhändig gemalt habe. Im Übrigen habe ich mich immer dafür geschämt, solche Bilder, die ich nur so dahingepinselt hatte,
in Gold zu verwandeln. Für diese Art von Verwandlung konnte ich keine Begeisterung aufbringen. Ich wollte in ganz andere Geheimnisse der Materie vordringen. Unter meinem Pinsel ist sie aber leider leblos geblieben, sie hat zwar das Leben nachahmen, nie aber zu neuem Leben erwachen können.
    «Nein, mein Freund», sagte ich zu ihm,«mit dem Alter fällt mir alles immer schwerer. Ich habe abgeschlossen. Wenn du einen guten Tintoretto willst, wende dich an Dominico.»«Dann verkauf mir etwas aus deinem Bestand», beharrte Kini.«Irgendein Bild wirst du doch haben, das dich nicht mehr interessiert, das jemand vergessen oder abgelehnt hat. Das dir nicht gelungen ist, das du mittendrin abgebrochen hast. Verkauf mir irgendetwas.»«Ich habe nichts mehr abzugeben», erwiderte ich,«meine Seele habe ich bereits verkauft, und dieser Plunder hier ist nicht einmal den Dreck unter dem Fingernagel wert.»«Du hast dich nicht im Geringsten verändert», erwiderte Kini lachend,«bist noch immer die alte Kratzbürste. Doch ich bleibe eisern. Ohne einen Tintoretto setzt mein Kunde keinen Schritt vor Venedigs Tore.»
    Otto bot mir doppelt so viel, wie der Besucher zu zahlen bereit schien. Übereifrig redete er auf mich ein, dass es verständlich sei, wenn ich keine Lust mehr habe, Portraits zu malen: Hunderte hätte ich angefertigt, um mich und meine Familie zu ernähren, das hätte ich nun nicht mehr nötig. Seiner hoch verehrten Exzellenz mit dem roten Bart könne ich geben, was ich wolle, einen toten Christus, einen Kampf des heiligen Michaels mit dem Drachen, ein Martyrium des heiligen

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