Titan 20
Wangen. Alle Körperfunktionen waren stillgelegt. Schnell und mit leichter Hand bereitete sie zwei Injektionen vor, die ihn langsam wieder an die Schwelle des Lebens zurückführen sollten. Sie mußte die Spitzen der Nadeln erhitzen, ehe sie sie in seine Vene stechen konnte.
Sie nahm die Injektionen vor und legte dann den Kopf an seine breite Brust. Es war, als lauschte man an einem Stein. Die Kälte des Todes strahlte von ihm aus, und sie fühlte sich klein und ängstlich. Ohne Blutkreislauf, mit einem Blut, das selbst so starr wie die marmornen roten Adern war, dauerte es lange, bis die Wirkung sich ausbreitete.
Dann begann endlich ein langsames Zucken des Herzens. Sie zählte bis dreißig, ehe der nächste Herzschlag erfolgte. Jedesmal wurde der Abstand um eine Sekunde kürzer. Die Körperwärme begann zurückzukehren. Als er seinen ersten stockenden, schwachen Atemzug tat, richtete sie sich auf und lächelte auf ihn herab. Sein Gesicht hatte wieder Farbe angenommen.
Mit Hilfe des kleinen Attraktors, den sie am Gürtel trug, hob sie ihn mühelos, trug ihn durch die Luke und legte ihn auf das frisch duftende Gras am Rand des tiefen blauen Tümpels.
Dann, von einer Kraft getrieben, die ihr fremd war, benützte sie die Reinigungskammer des Schiffes und wob frische Kleider für sich selbst, in einer Farbe, die heller war als alles, was sie bisher getragen hatte.
III
Revolution auf Simpar
Die Türme glühten, nahmen nebelhafte Umrisse an und wurden undeutlich. Die Stadt der Transition zuckte ihre himbeerfarbenen Schultern und schlüpfte von Ära 6 nach Ära 4. Das Risiko, damit die Abweichung von der vorgezeichneten Kulturlinie zu beschleunigen, war groß. Aber der Direktor war der Ansicht, daß die Koordination vom Inneren der Zielära besser als von außen bewirkt werden konnte. Bis jetzt hatte man noch keine Methode einer direkten Kombination zwischen den einzelnen Äras entwickelt. Man konnte nur dann Berichte der Außenteams in Transition entgegennehmen und Befehle aussenden, wenn die Stadt sich in der Ära befand, die Ex-Agentin Calna so kritisch gemacht hatte.
Sarrz kam sich verloren vor. Der Direktor selbst hatte die direkte Koordination der Außenteams übernommen. Sarrz hatte keine Funktion mehr. Das schmerzte ihn zwar, gab ihm aber Gelegenheit, das Gesamtbild zu betrachten. Wie alle leitenden Sozionetiker besaß Sarrz eine gute Ausbildung in symbolischer Probabilität. So beschloß er, den Probabilitätsindex des Verlustes künftiger Raum-Zeit-Rahmen gleichzusetzen, die ganze Übung so zu betreiben, wie man gedankenlos auf einem Stück Papier kritzelt.
Er griff sich den kleinen Tisch mit dem Computer und schwang ihn herum, um ihn leicht erreichen zu können. Er schaltete ihn auf alphanumerische Darstellung und ignorierte beim Eingeben der Daten das beständig aufleuchtende »Daten ungenügend«. Er ging vom direkten Verlust einer Ära, dem bevorstehenden Verlust einer zweiten, sowie Störungen in drei weiteren aus. Er las den Index ab und erschrak. Er löschte den Bildschirm und versuchte es noch einmal. Dasselbe Ergebnis. Dann saß er da und lauschte dem sich beschleunigenden Schlag seines Herzen. Der Probabilitätsindex aller Schwester-Raum-Zeit-Rahmen, die verloren gingen, war fast grotesk hoch, so hoch, daß die vollständigen Daten in sich unwahrscheinlich sein mußten, um das auf unvollständigen Daten beruhende Resultat auszugleichen.
Das deutete darauf hin, daß irgendein Faktor von außen am Werk war. Irgendein nicht ausgeglichener Faktor. Parallelen dafür gab es in der Astronomie. Es galt, die Abweichung zu finden und dann nach der Ursache Ausschau zu halten.
Plötzlich erkannte Sarrz, daß diese Angelegenheit von höchster Wichtigkeit war. Der Direktor mußte informiert werden, und zwar sofort.
Er griff nach dem Schalter, der die Verbindung mit dem Direktor herstellen sollte.
Und so fanden sie ihn. Sein Herz hatte in dem Augenblick ausgesetzt, als seine Finger den Schalter berührten.
Seine animalische Vorsicht verließ Andro keineswegs, als er das Bewußtsein wiedergewann. Er regte sich nicht und schlug auch die Augen nicht auf. Er blieb ganz still und konzentrierte sich darauf, alle Sinne auf ein Höchstmaß des Wahrnehmungsvermögens zu bringen. Gehör – das weiche Rauschen und Glucksen von Wasser, ein Knistern so wie Wind in den Blättern. Geruch – der würzige Duft des Waldes und der Wildnis. Tasten – Gras an seinen Armen, warme Luft an seinem Körper. Er
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