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Titan 22

Titan 22

Titel: Titan 22 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian W. Aldiss , Wolfgang Jeschke
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verschränkten Armen und ruhigem Gesicht bewegte. Ein losgelöster Beobachter, der Gegenstände sah, die vor ihm lagen, und zwar so deutlich wie die vor seinen Füßen.
    Im Augenblick, während er sich in den kleinen Vorratsschrank kauerte, sah er eine ungewöhnlich vielfältige Anzahl von Szenen für die nächste halbe Stunde. Viel lag vor ihm. Die halbe Stunde war aufgeteilt in ein unglaublich kompliziertes Schema separater Konfigurationen. Er hatte einen kritischen Bereich erreicht; er war im Begriff, sich durch Welten höchster Komplexität zu bewegen.
    Er konzentrierte sich auf eine Szene, die zehn Minuten vor ihm lag. Sie zeigte, wie ein dreidimensionales Bild, eine schwere Laserwaffe am Ende des Korridors, die auf das andere Ende gerichtet war. Männer bewegten sich vorsichtig von Tür zu Tür, überprüften noch einmal jedes Zimmer, wie sie das schon wiederholt getan hatten. Am Ende der halben Stunde hatten sie den Vorratsschrank erreicht, eine Szene zeigte, wie sie hineinsahen. Bis dahin war er natürlich verschwunden. Er befand sich nicht in jener Szene. Er war weitergezogen in eine andere.
    Die nächste Szene zeigte einen Ausgang. Wächter standen in dichter Reihe davor. Kein Weg ins Freie. Er war in jener Szene. Abseits in einer Nische, dicht neben der Tür. Die Straße draußen war sichtbar. Sterne, Lichter, Umrisse vorbeifahrender Fahrzeuge und Menschen.
    Im nächsten Tableau hatte er den Ausgang wieder verlassen. Es gab keinen Weg nach draußen. In einem weiteren Tableau sah er sich an anderen Ausgängen, eine Legion goldener Gestalten, immer wieder dupliziert, während er eine Region nach der anderen vor sich erforschte. Aber jeder Ausgang war gesichert.
    In einer fernen undeutlichen Szene sah er sich selbst verkohlt und tot am Boden liegen. Er hatte versucht, die Reihe der Wächter zu durchbrechen.
    Aber jene Szene war vage. Eine zitternde, undeutlich, eine von vielen. Der unabänderliche Pfad, auf dem er sich bewegte, würde nicht in jene Richtung abzweigen. Er würde ihn nicht dorthin schieben. Die goldene Gestalt in jener Szene, die Miniaturpuppe in jenem Raum, war nur entfernt mit ihm verwandt. Sie war er, aber ein sehr weit entferntes Ich. Ein Ich, dem er nie begegnen würde. Er vergaß es und fuhr fort, die anderen Tableaus zu erforschen.
    Die Myriaden von Tableaus, die ihn umgaben, waren ein kompliziertes Labyrinth, ein Geflecht, das er jetzt Stück für Stück sortierte. Er blickte hinunter in ein Puppenhaus aus endlosen Räumen, Räumen ohne Zahl, jeder mit eigenem Mobiliar, mit Puppen, alle starr und unbeweglich. Dieselben Puppen und dasselbe Mobiliar wiederholten sich in vielen. Auch er selbst tauchte oft auf. Die beiden Männer auf der Plattform. Die Frau. Immer wieder erschien dieselbe Kombination, das Spiel wurde häufig wieder gespielt, dieselben Akteure und Kulissen hin-und hergeschoben.
    Ehe die Zeit gekommen war, den Vorratsschrank zu verlassen, hatte Cris Johnson jeden der Räume untersucht, die neben dem lagen, in dem er sich jetzt befand. Jeden einzelnen hatte er konsultiert und seinen Inhalt sorgfältig bedacht.
    Er schob die Tür auf und trat ruhig in den Korridor hinaus. Er wußte genau, wohin er gehen würde. Und was er zu tun hatte. In dem engen Schrank kauernd hatte er ruhig und fachmännisch jede Miniatur seiner selbst überprüft, hatte beobachtet, welche klar abgezeichnete Konfiguration an seinem vorgezeichneten Pfad lag, den einen Raum des Puppenhauses, den günstigsten Korridor, den Set an Szenen aus vielen Legionen, auf die er sich zubewegte.
    Anita schlüpfte aus ihrem Metallfolienkleid, hängte es über einen Bügel, öffnete ihre Schuhe und kickte sie unter das Bett. Sie schickte sich gerade an, den BH aufzuhaken, als die Tür aufging.
    Sie zuckte zusammen. Lautlos, ruhig, schloß die große goldene Gestalt die Tür und verriegelte sie hinter sich.
    Anita griff nach ihrem Peitschrohr, das auf dem Ankleidetisch lag. Ihre Hand zitterte; ihr ganzer Körper zitterte. »Was willst du?« fragte sie. Ihre Finger verkrampften sich um das Rohr. »Ich werde dich töten.«
    Die Gestalt musterte sie stumm, mit verschränkten Armen. Das war das erstemal, daß sie Cris Johnson aus der Nähe sah. Das große, würdevolle Gesicht, hübsch und ausdruckslos. Breite Schultern. Die goldene Haarmähne, die goldene Haut, der Pelz aus leuchtendem Flaum…
    »Warum?« fragte sie atemlos. Ihr Herz schlug wild. »Was willst du?«
    Sie konnte ihn leicht töten. Aber das Peitschrohr zitterte.

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