Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte
auch den Operateur nicht auf eigene Verantwortung wecken.
Technisch ist
es kein Problem, auch außerhalb der Besetzungszeiten etwas zu empfangen, für
solche Fälle gibt es den »magnetischen Detektor« mit Federwerkaufzug – das
allerdings nicht betätigt worden ist. So nützt die beste Ausrüstung nichts,
weil der Fachmann schläft – und das tut er, bis er gegen fünf Uhr vom Leitenden
Offizier geweckt wird.
Zurück auf
die Brücke der Californian. Nach etlichen Bemühungen der Kontaktaufnahme
beschließt Lord gegen 00.50 Uhr sich endlich hinzulegen, wird aber schon bald
vom Zweiten gestört, der ihm meldet, daß das fremde Schiff Raketen abschießt.
Lord will wissen, ob es sich um (farbige) Reedereisignale handelt oder um
Notraketen, er bekommt aber keine klare Antwort. Heute ist es kaum
verständlich, wieso nicht spätestens zu dieser Zeit der Kapitän aufmerksamer
wird und klären läßt, welche Identität sich hinter dem Fremden verbirgt. Diese
Reaktion hätte man von einem ausgeschlafenen Schiffsführer erwarten dürfen,
aber der ist müde und sowieso wenig kontaktfreudig, und so befiehlt er nur,
weiterhin die Morselampe zu verwenden. Sind Notsignale nicht klar definiert, so
daß es überhaupt zu Zweifelnkommen kann? Ja: weiße Leuchtmittel, in
Intervallen gezündet, gelten zu dieser Zeit allgemein als Notsignal; Nein: es
werden in der Praxis alle möglichen Leuchtkugeln für die unterschiedlichsten
Zwecke verwendet. Diese Art des Informationsaustausches auf hoher See hatte
sich entwickelt, als es noch keine Telegraphie gab. Es bleibt also dem
einzelnen überlassen, ob er weiße Raketen – weißlich und bläulich sind leicht
zu verwechseln – als Notsignale versteht oder nicht. Es sollte noch lange
dauern, bis der heute selbstverständliche Zusammenhang ROT = NOT verbindlich
eingeführt wurde (ab 1948).
Andererseits:
darf man als Kapitän so nachlässig sein, die Raketen einfach zu ignorieren und
weiterzuschlafen? Nachdem acht weiße Raketen beobachtet wurden, scheint das
Schiff gegen 02.15 Uhr nach Südwesten zu verschwinden; so wird es jedenfalls
von der Brücke aus gesehen und über den Offiziersanwärter Gibson dem Kapitän
gemeldet. Lord nickt, fragt: »Alles weiße Raketen?«, läßt sich die Uhrzeit
geben und schläft weiter. Ein klassischer Fall von Mißverständnis? Eigentlich
nicht, denn wenn man Lords Ansicht folgt – »Ich hielt die Raketen für
Reederei-Signale« –, wäre die eigene Identifikation die normale Reaktion
gewesen, gerade weil der Kontakt mit der Morselampe keine Klarheit brachte. Ein
aufgeschlossenerer Kapitän hätte auch die Funkerei sinnvoller eingesetzt, und
die Notlage der Titanic wäre sofort offensichtlich gewesen.
Wachwechsel
um 4.00 Uhr; dem ablösenden Leitenden Offizier ist die Sache nicht geheuer, und
nach einiger Zeit der Überlegung weckt er den Funker, der verschlafen den
Rundruf »CQ« morst und dann von der Frankfurt erfährt, daß die Titanic ganz in der Nähe untergegangen ist. Lord wird geweckt und ist fassungslos,
er läßt sich die Position geben und dampft im Morgengrauen bis zu der Stelle,
an der die Carpathia inzwischen ihr Rettungswerk aufgenommen hat. Kurz
nach 8.00 Uhr erfährt er über Winkspruch, was sich in unmittelbarer Nähe
zugetragen hat und daß er jetzt nur noch nach Leichen suchen kann, derweil die Carpathia sich auf den Weg nach New York macht, mit 703 Geretteten.
Die Californian erreichte ihren Bestimmungshafen Boston am 19. April, und dort machten
Gerüchte die Runde, daß Besatzungsangehörige die Raketen der Titanic gesehen
hätten. Daraufhin werden Lord und einige andere nach Washington vorgeladen, wo
der US-Untersuchungsausschuß tagt. Der Vorsitzende, Senator William Alden
Smith, hat kurz darauf neuen Stoff zum Wundern. Aber obwohl Kapitän Lords
Glaubwürdigkeit vor diesem Ausschuß erschüttert wird, konnte ihm seine
Einschätzung bezüglich der Entfernung nicht pauschal widerlegt werden; auf etwa
20 Seemeilen – wenn alle Positionsangaben richtig wären – hätte er tatsächlich
den Rumpf der Titanic nicht erkennen können. Sein Horizont lag bei 7,8
Seemeilen, jener von der Brücke der Titanic bei 9,6 Seemeilen.
Andere Zeugen sprachen
eindeutig von geringeren Entfernungen (4 oder 5, höchstens 10 Seemeilen),
wenigstens war man sich über die gegenseitige Blickrichtung einig. Die
Auffassungen über den Schiffstyp gingen dafür völlig auseinander. Manche
Seeleute der Titanic glaubten, das fremde Schiff sei
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