TITANIC-WORLD
Blick dem ihren. Tiefe Betroffenheit lag darin; ebenso, wie die stumme Frage, die eine Erinnerung wachrief – und plötzlich schämte er sich.
Vor sieben Jahren, bei der Expedition 2004, hatten sie unter anderem eine, mit Büchern vollgestopfte Ledertasche geborgen. Die allgemeine Annahme, dass es sich um Privatsachen handelte, wurde schnell revidiert, als sie heraus fanden, dass es sich um die Frachtbücher handelte. Seine Enttäuschung, dass sich das Schiffstagebuch nicht darunter befand, konnte er damals nur mühsam verbergen. Cecilia, die über den Fund ganz aus dem Häuschen gewesen war, hatte seine Niedergeschlagenheit wohl bemerkt, aber nicht nachvollziehen können. Allerdings hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, denn etwa zwei Wochen nach ihrer Rückkehr hatte sie lächelnd gesagt: „Ich glaube, deine Traurigkeit an Bord unseres Forschungsschiffes war darauf zurückzuführen, dass du dies hier gerne im Original gefunden hättest.“ Mit diesen Worten hatte sie ihm ein Notizbuch aus schwarzem Leder in die Hand gedrückt. Völlig verblüfft hatte er festgestellte, dass es sich um eine imaginäre Version des Logbuches handelte. Cecilia hatte sie verfasst, um ihn aus der Trübsal zu reißen, die ihn seit dem Fund nicht mehr losließ. Das hatte ihn noch mehr angespornt; denn jetzt brannte auch seine Neugierde, in wie weit das Original mit Cecilias Darstellung übereinstimmte. Als er das Schiffstagebuch dann endlich – nach knapp achtzehn Monaten aufwendiger und akribischer Konservierungsarbeiten – in den Händen hielt und zu lesen begann, überkam ihn das unheimliche Gefühl eines Déjà-vu. In altmodischer Handschrift standen da die Ereignisse und Entscheidungen jener längst vergangenen Nacht; und es hätte Cecilia gewesen sein können, die die Worte niedergeschrieben hatte.
Schweren Herzens hat Mr. Andrews den Vorschlag unterbreitet … das Drängen des Herren Ismay … die vornämliche Rettung der Damen und Kinder der ersten Klasse... zu gegebener Stunde wird erneut entschieden … das Öffnen sämtlicher Durchgänge, die die Klassen strikt von einander trennen …
Aus seiner Erinnerung wehten diese Satzfragmente empor und Craig bemerkte, dass er Cecilia immer noch anstarrte. Fast unwillig sagte er: „Bist du jetzt so beleidigt, dass du noch nicht mal einen Blick in das Logbuch werfen möchtest? Ich meine, immerhinist es das Schiffstagebuch der TITANIC – Antworten auf bisher ungeklärte Fragen, Bestätigungen bislang heiß diskutierter Hypothesen …“
Cecilia antwortete nicht. Natürlich brannte sie darauf, das Buch in die Hand zu nehmen, es aufzuschlagen und die Ereignisse, die vor einhundert Jahren die Welt erschüttert hatten, mit eigenen Augen lesen zu dürfen – aber ein unbestimmtes Gefühl hielt sie zurück. Craig gab nicht auf und fügte fast drängend hinzu: „Weißt du noch, wie wir damals nächtelang diskutiert haben, wer die Einträge gemacht hat?“
Cecilia nickte schwach. Ihr Blick hatte etwas Flehendes, so als wolle sie nicht, dass er fortfuhr. Aber Craig hatte mittlerweile eine fieberhafte Erregung gepackt. Er wollte, dass sie es las! Er wollte, dass sie mit ihm darüber debattierte! Er wollte, dass alles wieder so würde, wie es gewesen war, bevor Inspektor Parker auf der Bildfläche erschienen war! Die inständige Bitte in ihren Augen übersehend, bemerkte er: „ Chief Officer Wilde hat in jener Nacht die Ereignisse aufgeschrieben. – Du hattest Recht mit deiner Annahme, dass nur er es gewesen sein konnte.“
Cecilia sagte immer noch kein Wort. Die Erinnerung kroch in ihr hoch, die sie trotz aller Anstrengungen nicht verscheuchen konnte. Sie sah Craig und sich in der Abenddämmerung an der Reling des Forschungsschiffs stehen. Seine Augen hatten mit der untergehenden Sonne um die Wette gefunkelt, als er vehement seine These verteidigte, es könne nur Captain Smith gewesen sein, der die letzten Stunden der TITANIC schriftlich niedergelegt habe, da alle Überlebenden berichtet hatten, dass er während der gesamten Evakuierung, die Brücke nur selten verlassen habe. Natürlich hatte sie ihm widersprechen müssen, denn Craig kannte zwar das Schiff, wie seine eigene Westentasche, aber, wenn es um die Menschen an Bord ging, nahm er es häufig mit den historischen Überlieferungen nicht ganz so genau. Also, hatte sie ihm geduldig erklärt, dass eigentlich nur sehr wenige Augenzeugen den Kapitän bei der gerichtlichen Anhörung erwähnt hatten und er so wohl auf der Brücke,
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