Tochter der Insel - Historischer Roman
Haustür und winkte eine Kutsche heran. Während der Fahrt zermarterte sie sich den Kopf über die Gründe für diese Einladung. Es konnte ja eigentlich nur um ihre Arbeit bei der Mannigfaltigkeit gehen. Unbehaglich rutschte Lea auf dem Sitz hin und her. Sie hatte keine Lust, einem völlig Fremden Rede und Antwort zu stehen.
Die Kutsche bog in das prächtigste Viertel der Stadt weit oberhalb des Flusses und dann waren sie auch schon beim Gasthaus angekommen. Der Kutscher zügelte die Pferde, nahm seinen Lohn entgegen und fuhr davon. Lea blieb unentschlossen vor dem Quincy’s Best stehen. Für einen Moment erwog sie, sich einfach umzudrehen und zu gehen, doch dann siegte die Neugier. Entschieden schüttelte sie ihre Beklommenheit ab. Sie würde sich auf keinen Fall verunsichern lassen!
Mit gestrafften Schultern und erhobenen Hauptes betrat sie den Empfangsraum und bat den Portier, Kaspar Steinberg über ihre Ankunft zu informieren. Bemüht ruhig ertrug Lea einige Minuten lang die neugierigen Blicke des Personals, war dann aber erleichtert, als ein Mann mit reserviertem Gesichtsausdruck ihr bedeutete, ihm zu folgen. Der Diener führte sie ins Restaurant des Hauses. Er nahm ihren Mantel und geleitete sie zu einem abgeschirmten Tisch beim Fenster, auf dem zwei Gläser und eine Flasche Wein standen. Der Diener schob ihr einen Stuhl zurück und verschwand nach einer angedeuteten Verbeugung. Einige Gäste blickten neugierig herüber.
Lea betrachtete mit großen Augen den Raum, der ganz in Weiß und Gold gehalten und verschwenderisch mit Blumen dekoriert war. Auf hellen Teppichen standen zierliche Möbel und wertvolle Gemälde schmückten die Wände. Von der Decke hingen prächtige Kronleuchter. Die Tür zum Restaurant öffnete sich und ein alter Mann trat ein. Einen Augenblick blieb er wie unschlüssig stehen, näherte sich dann aber mit raschen Schritten ihrem Tisch.
Lea blickte ihm entgegen. Der Fremde war mittelgroß, schlank und hielt sich sehr gerade.
Als ob es ihn große Mühe kostete, streckte er ihr die Hand entgegen. »Ich bin Kaspar Steinberg.«
Er sprach Deutsch, was Lea verwunderte. Seine Stimme hatte nicht einmal einen italienischen Akzent.
»Lea Brons.«
Der Mann betrachtete sie auf eine Weise, die Lea ungehörig gefunden hätte, wenn da nicht diese Gerührtheit auf seinem Gesicht gewesen wäre. Sein Blick ruhte lange auf ihrem Gesicht und glitt dann zu dem dunkelblauen Kleid mit den schmalen Ärmeln. Lea entschied sich, die Musterung hinzunehmen, und betrachtete nun ihrerseits den Mann. Kaspar Steinberg hatte ein rundes, glatt rasiertes Gesicht, auf dem ein gütiger Ausdruck lag. Sein weißes Haar trug er länger, als es üblich war, doch es wirkte nicht ungepflegt. Lea stockte der Atem, als sie die Narbe einer Wunde über der rechten Wange sah. Sie war tief, blutrot, ein altes, längst verheiltes Wundmal, das die helle Haut wie ein Peitschenhieb durchschnitt. Als ob er ihren fragenden Blick spürte, legte der alte Mann eine Hand darauf.
Schließlich sagte er: »Es muss Ihnen merkwürdig vorkommen, dieses erbetene Treffen. Bitte entschuldigen Sie mein Drängen, aber ich bin alt und mir bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit. Ich musste einfach hierherkommen und Sie sehen, musste wissen … « Er brach ab. Voller Staunen sah Lea, wie ihm eine Träne über die Wange rollte. Der alte Mann schluckte.
»Ich muss es anders anfangen.« Er setzte sich ihr gegenüber und schien nach Worten zu suchen.
Durch das geöffnete Fenster wehte eine sanfte Brise herein und strich über Leas Gesicht. Auf dem Steinweg im Garten schritt eine junge Frau und pflückte Blumen. Das Geräusch ihrer Schritte klang zu ihnen herüber und beruhigte Lea.
Kaspar Steinberg hatte die Hände gefaltet auf den Tisch zwischen ihnen gelegt. Als er endlich sprach, bebte seine Stimme leicht. »Wie ähnlich du ihr bist. Es ist für mich wie ein Wunder.«
»Wem bin ich ähnlich?«
»Cecilia, meiner verstorbenen Frau. Diese Augen, das Kinn und sogar die Farbe deiner Haare.«
»Ich kenne keine Cecilia. Wir sind ganz sicher nicht miteinander verwandt. Es muss sich um einen Irrtum, einen Zufall handeln.«
Lea fragte sich allmählich, ob der Fremde noch bei Verstand war. Trieb die Einsamkeit ihn dazu, sich in verrückte Geschichten hineinzusteigern? Unauffällig blickte sie zur Tür. Am liebsten würde sie jetzt aufstehen und gehen.
Die Lippen des Mannes zuckten und die Narbe pochte. »Bitte entschuldige meine Sprunghaftigkeit. Es war eine
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