Tochter der Insel - Historischer Roman
weiß.
»Großvater?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.
Er fuhr sich über die Augen, wie um dunkle Schatten zu verscheuchen, und setzte sich wieder an den Tisch. Sein Gesicht sah grau und müde aus.
»Es geht schon wieder, mein Kind. Die Erinnerung daran tut nach all den Jahren immer noch weh. Doch es sollte nicht das einzige Leid bleiben, das mir widerfuhr. Gerüchte kamen im Dorf auf. Es hieß, Cecilia hätte einen Geliebten gehabt und das Kind sei von ihm. Neid und Missgunst ließen schnell den Vorwurf laut werden, ich hätte meine geliebte Frau umgebracht. Diese Behauptungen brachten mich, der so sehr litt, fast um den Verstand. Ich widersprach, ich beschwor die Leute, doch niemand glaubte mir.
Das war mehr, als ich ertragen konnte. Von einem Tag auf den nächsten kehrte ich meiner Heimat den Rücken, verkaufte das Gut und zog mit meinem kleinen Sohn Stefano nach Italien. Cecilias Familie empfing uns mit offenen Armen.
Die Sehnsucht nach Cecilia ist über all die Jahre mein Begleiter geblieben – und das Heimweh. Letzteres konnte ich zeitweilig befriedigen. Da es an Geld nicht mangelte, reisten Stefano und ich immer wieder in die alte Heimat. Ich fuhr auch gerne auf die Inseln an der Küste, wo ich schon oft die Sommerfrische mit Cecilia verbracht hatte. Wir hatten gelernt, die versteckten Eilande an der Nordsee und das raue Meer zu lieben.
Die Zeit schritt voran und Stefano, ein aufgewecktes Kind, wurde erwachsen. Er machte mir Freude und war arbeitsamer, als ich es je gewesen bin. Von seiner Mutter hatte er das Künstlerische geerbt und da Cecilias Familie Perlai , Perlenschmuckmacher aus Familientradition, sind, spezialisierte er sich auf die Herstellung besonderer Schmuckstücke aus Glas. Er verarbeitete Gold und Silber und gab damit dem mundgeblasenen und handmodellierten Glasschmuck seine eigene Note. Stefano war nicht minder erfolgreich, als es seine Mutter mit ihren Bildern gewesen war. Sie wäre stolz auf ihn gewesen.
Während ich selbst an meinem zurückgezogenen Dasein festhielt, mich als Lyriker und Romancier versuchte, brauchte Stefano Leben um sich. Er liebte es, zu reisen, andere Menschen kennenzulernen. Doch all die Schönheit der großen Städte, die Wunder des Orients und die Fahrten über die Meere konnten ihm die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf den Inseln nicht austreiben. Immer wieder zog es ihn nach Wangerooge, wo wir während seiner Kindheit viel Zeit verbracht hatten.
Auf seiner letzten Reise dorthin verliebte sich mein Sohn unsterblich in eine junge Frau. Er kehrte nach Italien zurück und erzählte mir davon und auch, dass sie unglücklich verheiratet sei. Ich versuchte ihm diese Beziehung auszureden, jedoch ohne Erfolg. Wir überwarfen uns sogar deswegen. Stefano hätte die junge Frau am liebsten sofort mit nach Hause gebracht, doch sie bestand nach seinen Worten darauf, sich ihrem Mann, der zur See fuhr, erklären zu müssen. Und so trennten die beiden sich. Stefano schrieb lange Briefe, die jedoch unbeantwortet blieben. Ich freute mich und hoffte insgeheim, dass seine Geliebte sich besonnen und gegen ihn entschieden hätte. Stefano wurde immer unruhiger. Eines Tages hielt er es nicht mehr aus und beschloss, nach Wangerooge zu reisen.«
Kaspars Miene verdüsterte sich. »Er wollte seine Geliebte nach Italien holen, doch sein Vorhaben misslang. Stefano starb bei einem Kutschenunfall. Ich habe meinen Sohn niemals wiedergesehen.«
Er strich sich eine weiße Strähne aus dem Gesicht. Seine Hand zitterte.
Leas Hals war wie zugeschnürt. Er wollte seine Geliebte nach Italien holen! Stefano hatte ihre Mutter nicht verlassen, sondern geliebt. Es war der Tod gewesen, der sie getrennt hatte, ein Unglück! Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, was dieses Wissen für ihre Mutter bedeutet hätte. Ob Stefanos Briefe sie jemals erreicht hatten? Oder hatte Großmutter auch diese verschwinden lassen? Sie würden es nie mehr erfahren.
Die Stimme ihres Großvaters brachte Lea in die Gegenwart zurück. »Ich sah dein Gesicht in der Mannigfaltigkeit und las, dass du auf Wangerooge geboren wurdest. Es passt alles zusammen. Du bist ohne Zweifel meine Enkeltochter, auch wenn sich das wahrscheinlich nie beweisen lässt.«
»Vielleicht doch! Warum ist mir das nur nicht eher eingefallen! Du sagtest, mein Vater hat Schmuck hergestellt. Ich besitze ein Medaillon meiner Mutter!«
Sie griff nach der Kette um ihren Hals und zog das Schmuckstück hervor.
Ehrfürchtig nahm
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