Tochter der Insel - Historischer Roman
Kaspar Steinberg das Kleinod entgegen.
Als er den Hebel an der Seite berührte, sprang der Deckel auf. Schweigend betrachtete der alte Mann das Porträt. Seine Finger glitten über den verzierten Rahmen, der die Miniatur einfasste. Schließlich hob er den Kopf und sah Lea an.
»Das ist eine von Stefanos Besonderheiten gewesen. Diese Verzierungen, die vielen Ranken und Blüten. Das Bildnis der Liebsten, gebettet in ein Meer von Blumen.«
Dann, als ob ihm ein Gedanke gekommen sei, löste Kaspar Steinberg mit einer geschickten Bewegung das Bildnis aus der Halterung. Vorsichtig drehte er die Miniatur um. Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle.
»Sieh doch nur!«
Lea war mit einem Satz neben ihm. Sie blickte in das Gesicht eines Mannes mit dunklem Haar und ebensolchen Augen.
»Stefano!« Die Stimme des alten Mannes klang gepresst. »Mein Gott, sie war tatsächlich seine Liebste!« Er ließ die Hand sinken, als sei ihm der Schmuck plötzlich zu schwer geworden.
Lea legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Was für eine unglückliche Geschichte!«
Der alte Mann richtete sich auf. »Ich glaube, es würde deine Eltern sehr glücklich machen, wenn sie wüssten, dass wir beide uns gefunden haben. Ihre Geschichte hat doch noch ein gutes Ende genommen. Du darfst nicht zurückschauen, Lea. Was war, ist unwiederbringlich vorbei. Du bist die Zukunft!« Er griff nach seinem Weinglas und nahm einen großen Schluck. Dann wandte er sich erneut dem Medaillon zu, drehte mit einer entschlossenen Bewegung das Bildnis seines Sohnes um und gab Lea den Schmuck zurück. »Und nun will ich deine Geschichte hören.«
Sie redeten stundenlang. Kaspar Steinberg erfuhr von seiner zweiten Enkeltochter Rebekka, ihrer gemeinsamen Kindheit und von Leas Reise nach Amerika. Natürlich erfuhr der alte Mann auch alles über Ferdinand Gärber. Er erregte sich so sehr, dass Lea begriff, dass dieser Mann nicht nur eine sanfte Seite besaß.
Es wurde spät und später. Schließlich brach der Abend über sie herein und Kaspar Steinberg bat seinen Diener, eine Kutsche zu besorgen.
»Ich werde dich begleiten.«
Lea hakte sich bei ihrem Großvater ein und fühlte sich befreit und glücklich.
»Schau nur, wie herrlich der Fluss aussieht.«
Lea blickte auf den Mississippi hinunter, dessen Wasser von der Abendsonne golden gefärbt war. Die Raddampfer mit ihren Laternen sahen von oben wie riesige Glühwürmchen aus, die über glänzende Pfade schwebten.
»Wunderschön!«
»Nicht wahr. Wie alles an diesem Tag!«
Kurze Zeit später lehnte Lea sich in die ledernen Sitze der Kutsche zurück. Während das Gefährt durch die mondhelle Nacht fuhr, konnten sie nicht aufhören zu reden.
»Lea, ich habe nachgedacht und möchte dir einen Vorschlag machen. Was hältst du davon, die kommenden Monate bei mir in Italien zu verbringen? Ich kann es kaum mehr abwarten, dir unseren Besitz zu zeigen. Danach können wir nach Wangerooge fahren und deine Angelegenheiten regeln. Ich werde in der Zwischenzeit Erkundigungen über diesen Betrüger einholen und Maßnahmen gegen ihn vorbereiten.«
»Italien?«, flüsterte Lea verwirrt.
»Ich wünsche mir so sehr, dass du mich dorthin begleitest.«
»Aber was ist mit meiner Arbeit hier, mit Nikolas und der Mannigfaltigkeit? Ich kann das alles doch nicht einfach aufgeben.«
»Das brauchst du nicht. Hast du vergessen, dass ich auch für die Zeitschrift schreibe? Wir werden es gemeinsam tun. Wir werden in Zukunft alles gemeinsam tun!«
Leas Augen wurden feucht. Es war wie ein Traum! Unglaublich! Diese Begegnung stellte ihr ganzes Leben auf den Kopf. Sie würde Italien kennenlernen und danach mit Großvater nach Wangerooge reisen! Allein hätte sie vielleicht nicht den Mut aufgebracht, doch mit ihm zusammen schien es das Selbstverständlichste der Welt zu sein.
»Erzähl mir von Italien. Dein Anwesen ist schön, nicht wahr?«
»Wunderschön! Du wirst es sehen! Unser Landsitz liegt an einem Hang, an dessen Fuß sich ein Flüsschen entlangschlängelt. Das alte Herrenhaus wirkt trotz der gewaltigen Ausmaße anheimelnd, zumindest empfinde ich es so. Jeder deiner italienischen Vorfahren hat ein wenig daran verändert oder erneuert. Das Ganze fügt sich erstaunlich harmonisch zusammen. Dazu der liebliche Fluss und die Wälder um das Anwesen. Du wirst unseren Besitz lieben lernen, Lea.«
»Jetzt hast du mir etwas zum Träumen gegeben!«
Sie waren vor Leas Haus angekommen. Sie küsste ihren Großvater auf die Wange, winkte zum
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