Tochter der Insel - Historischer Roman
Schmetterling, der gerade erst aus dem Kokon geschlüpft war und seinen Flügeln noch nicht so recht traute. Doch die Uhr drehte sich unbeirrt weiter.
5.
Wangerooge
Spätsommer 1855
1
L ea stand an der Reling und blickte auf das Meer hinaus. Ihr Großvater hatte recht gehabt. Sie liebte Italien und würde immer wieder dorthin zurückkehren. Doch die Monate in dem fremden Land hatten ihr auch deutlich gemacht, dass weder die Schönheit der Landschaft noch das angenehme Leben auf dem Familiensitz Wangerooge aus ihren Gedanken verdrängen konnte.
Amerika dagegen schien, obwohl sie dort mehr zurückgelassen hatte, als irgendjemand ihr hätte nachschicken könnte, in weiter Ferne zu liegen. Manchmal dachte sie an Hardy, von dem der Abschied ihr so schwergefallen war, und an Bell.
»Ach Lea, ich werde dich fürchterlich vermissen«, hatte diese geklagt und sie mit einem wunderbar weichen Handmuff als Lebewohlgeschenk überrascht.
»Wie schön! Ich habe leider kein Abschiedspräsent für dich, Bell.«
»Wenn du erst ein großes Haus auf der Insel führst, dann komme ich dich besuchen. Ich werde unter falschem Namen anreisen und mich wie eine Gräfin aufführen.« Sie hatte Nikolas leicht angeschubst. »Vielleicht kann ich dich überreden, mich zu begleiten. Wir könnten uns als ein gediegenes altes Ehepaar ausgeben.«
»Mit dir würde ich fast alles wagen!«
Lea lächelte bei dem Gedanken an die Briefe, die sie seitdem ausgetauscht hatten. Irgendwann würden sie sich wiedersehen.
Breitbeinig stemmte Lea sich gegen das Wogen und Schaukeln des Schiffes. Der Wind fuhr mit warmen Fingern durch ihr Haar. Es war drückend heiß. Lea genoss die salzige Gischt auf ihrer Haut und den Anblick der Nordsee.
Sie reisten mit wenigen Passagieren vom Festland nach Wangerooge.
»Ich bin so gespannt, Großvater!«
»Hast du dieser Insulanerin – wie hieß sie noch gleich – unser Kommen mitgeteilt?«
»Du meinst Hiske. Ja, sie erwartet uns.«
Lea hatte ihr alles geschrieben und Hiske, die treue Seele, berichtete ihrerseits von der gänzlich veränderten Lage auf der Nordseeinsel.
Unser kleines Wangerooge hat am Tag des Jahreswechsels einen wahrlich ungleichen Kampf mit dem Meer geführt. Wir Insulaner sind verschont geblieben, doch die Insel hat schwere Verwundungen davongetragen .
Nach der glänzenden Badesaison im Sommer war Wangerooge an Silvester von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht worden. Viele Inselbewohner hatten ihre Häuser verloren und auf Anraten der Regierung Wangerooge verlassen, um am Festland neu zu siedeln. Ein harter Kern dagegen, zu dem auch Hiske gehörte, war auf der Insel geblieben.
Mein liebes Kind. Du wirst alles völlig verändert vorfinden. Die Insel ist in zwei Teile zerrissen. Mein Haus ist kaum beschädigt, doch von der Heimstatt deiner Großmutter steht nur noch die Fassade. Auch die Badeanstalt, der Stolz der Geheimen Hofrätin, ist ein Raub der Fluten geworden. Viele Wohnhäuser sind gänzlich vernichtet, die übrigen beschädigt oder nur noch Ruinen. Stell dir nur vor, rund um den Turm liegt jetzt freier Strand. Der Friedhof, die herrschaftlichen Anlagen, wo die Gäste lustwandelten, und auch die meisten unserer eigenen Gärten – alles dahin. In den Trümmern des alten Dorfes ist auf Dauer kein Bleiben möglich. Fortgesetzt nagt das Meer im Westen weiter und entführt Sand und Strand gen Osten. Das alte Wangerooge gibt es nicht mehr. Was soll nur aus unserer Insel werden?
Lea spürte, wie ihr die Tränen kamen. Alles dahin! Das alte Wangerooge gibt es nicht mehr. Wie würde es sein, heimzukommen? War Wangerooge immer noch der Ort, nach dem sie sich sehnte?
Lea blickte hinauf zu den Wolken, die vor einem türkisfarbenen Himmel trieben. Die Farben wandelten sich unablässig.
Alles verändert sich, dachte Lea wehmütig.
Ihre Gedanken glitten zu Ferdinand Gärber. Hiske hatte auch von ihm und seinen neuen Machenschaften geschrieben.
Denke dir nur: Dieser Gauner hat den Großherzog mit schönen Worten eingelullt und sich das Privileg erschlichen, ein Privatbad einrichten zu dürfen. Zwölf Badekutschen hat die Regentschaft ihm dafür zur Verfügung gestellt, die Pavillons, das Fortepiano und einige andere Sachen zum Gebrauch überlassen. Der windige Bursche führt sich auf, als sei er König von Wangerooge, und lässt die Leute nach seiner Pfeife tanzen. Du glaubst nicht, wie dieser Verbrecher die wenigen Gäste ausnimmt, die sich hier eingefunden haben. Von Fürsorge und
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