Tochter der Insel - Historischer Roman
Abschied und ging hinein.
Mit einem Gefühl großer Dankbarkeit glitt Lea unter die weichen Laken. Wie schön es war, sich der Liebe und Fürsorge eines anderen Menschen überlassen zu können! Was für eine Erleichterung, die Sorgen nicht mehr allein tragen zu müssen! Lea seufzte glücklich auf. Das Schönste aber war, dass es jemanden gab, zu dem sie gehörte, dem sie etwas bedeutete. Sie hatte wieder eine Familie. Die Aufregung darüber prickelte in ihren Adern wie Wein. Was für ein unschätzbares Geschenk! Es war, als habe Großvater ihr die Welt auf einem goldenen Tablett serviert.
Sie schloss die Augen und versuchte die Bilder, die er mit seinen Worten heraufbeschworen hatte, mit Leben zu füllen. Mit einem Lächeln auf den Zügen schlummerte sie schließlich ein.
Als Nikolas am nächsten Tag von all dem erfuhr, konnte er sich kaum beruhigen.
»Das ist ja wirklich unglaublich! Die Mannigfaltigkeit hat euch zusammengebracht!«
Stolz klang aus seiner Stimme, als sei dies sein Verdienst.
Sie saßen zu dritt auf einer Klippe über dem Mississippi und genossen die Sonne. Lea sog den Duft von Blumen ein, auf denen sich erste Schmetterlinge tummelten. Sie warf ihrem Großvater einen liebevollen Blick zu. Heute Morgen hatte sie fast an einen schönen Traum geglaubt, doch Kaspar Steinberg saß in Fleisch und Blut neben ihr und sie schmiedeten gemeinsam Pläne.
»Ich werde euch die Reise nur erlauben, wenn ihr zusammen diese spannende Geschichte für die Mannigfaltigkeit zu Papier bringt.«
Lea lachte. »Das ist eine unserer leichtesten Übungen. Wir werden auch weiterhin die unglaublichsten Artikel schreiben, nicht wahr, Großvater?«
»Nikolas wird sich kaum noch retten können!«
»Ich hoffe darauf. Ich würde ja gerne länger mit euch plauschen, doch es wartet noch ein Auftrag.« Er erhob sich.
Nachdem Nikolas gegangen war, saßen Lea und ihr Großvater noch eine Weile schweigend beisammen und betrachteten das Treiben auf dem Fluss.
Ein weißer Schmetterling taumelte durch die Luft und setzte sich auf Leas Hand. Sie rührte sich nicht. Die Flügel klappten auf und zu und blieben schließlich, wie Segel eines Schiffes, aufrecht stehen. Der Wind strich über die samtenen Härchen, die im Sonnenlicht schimmerten. Lea vertiefte sich in die Muster auf den Flügeln.
»Alles scheint nach einem bestimmten Plan gewebt zu sein.« Sie entsann sich, dass irgendjemand einmal gesagt hatte, alle Geschöpfe seien aus einem Guss. Dies würde bedeuten, dass dieses federleichte Wesen und sie eins waren. Das war ein gutes Gefühl.
»Großvater, glaubst du, dass die Wege des Lebens vorgezeichnet sind?«
»Vielleicht. Das fertige Motiv werden wir vermutlich erst erkennen können, wenn das Ziel erreicht ist.«
Ein Schauer überlief Lea und ihre leichte Bewegung ließ den Schmetterling erzittern. Er senkte die Flügel und taumelte über sie beide hinweg, der Sonne entgegen.
Es war so still, dass Lea den Luftzug nicht nur spürte, sondern auch zu hören glaubte. Ihr ging auf, dass sie die Stille liebte. Etwas, das es in Quincy selten gab. Die Menschen in der Stadt redeten ständig. Jeder glaubte, etwas zu sagen zu haben, und ließ dem anderen kaum Raum für eigene Worte. Hier, an der Seite ihres Großvaters, konnte sie Stille und Frieden finden.
Ganz allmählich ließ Lea die Geräusche und das Leben in dieser Stadt am Ufer des Mississippi wieder an sich herankommen. Sie wandte den Kopf und blickte auf die Häuser. Trotz aller Betriebsamkeit würde sie Quincy vermissen. Hier hatte sie erste eigene Schritte gewagt, etwas zuwege gebracht. Sie hatte Dinge getan, die ihr auf der Insel unmöglich erschienen wären. Hier war sie aus Rebekkas Schatten herausgetreten und hatte zum ersten Mal gewusst, was sie wollte und was sie nicht wollte! Obwohl die Erinnerungen schwächer wurden, fühlte sie sich Rebekka jetzt näher als jemals zuvor. Sie verdankte ihr so viel! Letztendlich die Reise zu sich selbst. Es war ein langer Weg gewesen. Ein Weg mit Höhen und Tiefen, gekrönt durch das Zusammentreffen mit Großvater. Mit ihm zusammen hatte sie das Herz und den Mut, alle Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Die Rückkehr nach Wangerooge war eine davon.
Vom Wasser her blies eine leichte Brise herüber. Bienen summten in den ersten Frühlingsblüten. Lea wünschte sich plötzlich, die Zeit würde eine Weile stillstehen und es ihr erlauben, sich an den Gedanken zu gewöhnen, Enkeltochter zu sein. Sie fühlte sich wie ein
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