Tochter der Insel - Historischer Roman
Unterhaltung kann keine Rede sein. Im Gegenteil! Da er keinen Nebenbuhler zu fürchten braucht, nimmt der Schuft, was er nur kriegen kann. Dieser Räuber stopft sich die Taschen voll, während er das Personal äußerst schäbig bezahlt. Es ist ein Trauerspiel!
Lea runzelte bei dem Gedanken an Hiskes Worte die Stirn. Ihr Großvater hatte Erkundigungen über Gärber eingezogen und in Erfahrung bringen können, dass dieser für die angesehene Bankiersfamilie Krummrat als Agent den Kontakt zu Kunden in Bremen gepflegt hatte.
Nicht erst durch Kaspar Steinbergs Brief an den Inhaber des Bankhauses waren Zweifel an der Rechtschaffenheit Gärbers laut geworden. Die Bankiers hatten sich schon vor einiger Zeit von Gärber getrennt und diskrete Nachforschungen angestellt. Sie fanden heraus, dass die seriösen Geschäfte Gärbers nur Fassade für seine üblen Machenschaften gewesen waren. In der Zeit seiner Tätigkeit für die Krummrats hatte er sowohl die Kunden als auch die das Bankhaus betrogen.
Vier alleinstehende Frauen, samt und sonders treue Kundinnen, waren plötzlich und unerwartet gestorben und der Finanzberater hatte ihr Vermögen eingestrichen. Letzteres hatte die Krummrats veranlasst, die Gendarmerie einzuschalten. Wie weit die Angelegenheit gediehen war, musste sich in Bremen herausstellen.
Großvater hatte ein Treffen mit dem Inhaber des Bankhauses veranlasst. Lea hoffte, dass sich Gärber schon in Haft befand. In Hiskes letztem Brief stand nichts darüber. Niemand auf der Insel schien etwas von dem Netz, das sich immer dichter um Gärber zusammenschloss, zu ahnen.
Lea seufzte tief auf. Hoffentlich würde sie diesem Mann nicht erneut begegnen. Sie merkte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann, und schüttelte über sich selbst den Kopf. Wo, um alles in der Welt, war nur ihr Mut geblieben? Sie hatte doch in Amerika ganz andere Hürden genommen! Außerdem war sie nicht allein. Leas Blick streifte den Mann, der an ihrer Seite stand und sie liebevoll betrachtete. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das er erwiderte.
Lea versuchte, sich ihre innere Unruhe nicht anmerken zu lassen, doch ihr Großvater schien sie dennoch zu spüren. Er legte seine warmen Hände um die ihren und nickte Lea aufmunternd zu. Sofort wurde ihr leichter ums Herz. Was auch immer sie auf der Insel erwarteten mochte, sie würden sich dem gemeinsam stellen! Bald würde der Kreis sich schließen und sie wieder auf Wangerooge sein.
2
D ie Insel tauchte aus dem Dunst auf wie ein Traumgebilde. Weiße Wolken glitten vom Eiland auf den Dampfer zu, wie eine Truppe von Bediensteten, die ihnen entgegeneilten. Leas Ohren lauschten dem Rauschen des Wassers, durch das die Telegraph schnitt. Sie blickte über das Meer bis hin zur Insel, die langsam deutlicher wurde. Ihre Augen standen voller Tränen.
Schon von Weitem erkannte sie Hiske unter den Wartenden. Ihr weißes Spitzenkäppchen leuchtete in der Sonne. Sie trug trotz der Hitze des Tages ihre sonst nur den Sonntagen vorbehaltene Jacke mit den langen Schößen. Als Lea festen Boden unter den Füßen hatte, kämpfte sie sich durch eine leichte Sandverwehung und warf sich in Hiskes Arme. Sie drückten einander so fest sie nur konnten.
»Ach Kind, endlich bist du wieder da!« Hiske schob Lea ein Stück von sich und betrachtete sie ausgiebig. Sie griff in Leas Haar, das sie wie so häufig offen trug. Ihre Augen wanderten über das leichte weinrote Kleid, unter dem der bestickte Kragen einer hellen Bluse hervorblitzte. »Wunderschön siehst du aus. Fast so vornehm wie die Gäste der Hofrätin.«
Neugierig blickte sie zu Kaspar Steinberg, der in seinem braunen Leinenanzug elegant wirkte. »Und Sie müssen Leas Großvater sein.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Kaspar Steinberg.« Er verbeugte sich leicht. Der Wind blähte seine Jacke. Er hatte seinen Hut in die Hand genommen, damit keine Böe ihn davontrug. »Danke, dass Sie uns abholen.«
»Na, das ist ja wohl eine Selbstverständlichkeit.«
Zögernd kamen nun auch andere Insulaner auf die Neuankömmlinge zu und begrüßten sie. Erstaunt bemerkte Lea, wie gut es ihr tat, die bekannten Gesichter wiederzusehen. Unwillkürlich hielt sie Ausschau nach Immo, doch er war nicht unter den Wartenden. Eine tiefe Enttäuschung übermannte sie. Sie hatte versucht sich ihr Wiedersehen vorzustellen, hatte sich Worte für ihn zurechtgelegt.
Und jetzt war er nicht da! Lea seufzte innerlich und verscheuchte wehmütig die Gedanken an ihn. Sie wollte ihre
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