Tochter der Insel - Historischer Roman
niederlassen und ihr auf ewig nachstellen. Das würde ihr die Luft zum Atmen nehmen.
Wie war es ihm nur gelungen, sich Großmutters gesamten Besitz anzueignen? Da stimmte doch etwas nicht, auch wenn die Papiere ohne Zweifel Großmutters Unterschrift und das Siegel des bekannten Bankhauses Krummrat trugen. Doch wie sollte sie beweisen, dass dieser Schuft sich an ihrem Erbe bereichert hatte? Ihr Erbe? Sie war weder die leibliche Enkeltochter von Katharina Brons noch gab es andere Bande zwischen ihr und der Verstorbenen. Konnte sie überhaupt etwas annehmen von dieser Frau, die Rebekkas Briefe unterschlagen und ihr so wehgetan hatte?
Lea griff sich an die Stirn. In all dem Durcheinander in ihrem Kopf fasste sie einen einzigen klaren Gedanken: Sie wollte fort von hier. Fort von diesem Betrüger und auch fort von Immo. Und sie hatte die Möglichkeit dazu! Das Billett. Jetzt war sie von Herzen dankbar dafür. Es gab kein Überlegen mehr. Sie würde in Amerika an Rebekkas Seite ein neues Leben beginnen.
»Ich muss weg von hier. Morgen früh, mit dem ersten Schiff, verlasse ich Wangerooge.«
»Das ist doch Unsinn! Vor Schwierigkeiten davonzulaufen ist nicht der richtige Weg. Wir beide gehen jetzt erst zu Immo und dann zum Vogt und erzählen alles. Die beiden werden wissen, was zu tun ist, und dem Kerl schon die Leviten lesen. Außerdem kannst du dir doch nicht einfach dein Zuhause wegnehmen lassen. Und sollte es tatsächlich so sein, dass du mit leeren Händen dastehst, dann hat die Geheime Hofrätin bestimmt Arbeit für dich. Unterkommen kannst du gerne bei mir.«
Lea schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist lieb gemeint, aber ich muss gehen. Dieser Betrüger wird mich nicht in Ruhe lassen und ich habe weder einen Vater noch einen Bruder, der mich auf Dauer vor seinen gierigen Händen schützen könnte. Hiske, ich habe furchtbare Angst vor ihm.«
»Ich habe immer geglaubt, dass Immo und du … «
Lea schüttelte den Kopf. »Wirst du mir helfen zu fliehen?«
»Aber, Kind, wohin willst du denn gehen?«
»Nach Amerika, dort kann er mich nicht finden.«
»Das geht doch nicht, noch dazu so ganz alleine. Und wie willst du das Geld für die Reise aufbringen?«
»Rebekka wartet auf mich. Sie hat mir eine Fahrkarte geschickt. Heye Harms brachte sie mir heute Morgen, zusammen mit einem Brief von ihr. Mach nicht so ein Gesicht, es ist wahr. Hiske, es bleibt keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Rebekka erwartet mich in der Neuen Welt. Gärbers Betrügereien betreffen sie genauso wie mich. Gemeinsam mit ihr werde ich entscheiden, was zu tun ist, ob wir um unser Erbe kämpfen. Doch jetzt muss ich fort von hier. Schnell, bring mir Großmutters Reisekoffer.«
Die Haushälterin schien zu erkennen, dass Lea sich nicht würde umstimmen lassen. Kopfschüttelnd stand sie auf und brachte das Gewünschte.
Lea straffte die Schultern. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Entschlossen öffnete sie die Schubladen ihres Schrankes und stopfte wahllos Strümpfe und Unterröcke, Wäsche und mehrere Kleider in den Koffer.
Draußen ging die Sonne bereits unter, als Lea mit dem Packen fertig war. Sie trat ins Wohnzimmer und warf zum Abschied einen letzten Blick in den Raum. Dann zog sie entschlossen die Tür hinter sich zu.
Hiske stand in der Diele und ergriff ihre Hände. »Kind, ich bitte dich, schlaf noch eine Nacht über deine Entscheidung. Bei Licht sieht alles anders aus. Ich werde morgen in aller Frühe wieder hier sein. Wenn du dann immer noch gehen willst, dann sollten wir den unauffälligen Weg durch die Dünen nehmen. Ich bringe für das Gepäck den Handkarren mit. Aber ich hoffe bei Gott, dass du vernünftig bist und den Vogt oder zumindest Immo zu Hilfe rufst.«
Lea küsste die Haushälterin auf die Wange. »Was würde ich nur ohne dich anfangen? Und jetzt geh nach Hause. Die Nacht wird kurz genug sein.«
Als Lea erwachte, war der Himmel noch dunkel. Nur ein Lichthauch verriet, dass der Morgen bald anbrechen würde. Obwohl es kühl im Zimmer war, schob sie die Vorhänge des Wandbettes ganz zur Seite, trat ans Fenster und sah hinaus. Schemenhaft konnte sie die Landschaft ausmachen. Mit schmerzhafter Deutlichkeit erinnerte sie sich an den gestrigen Tag. Sah das Gesicht von Ferdinand Gärber vor sich. Ich erwarte ein angemessenes Willkommen. Es schüttelte Lea. Darauf konnte er lange warten! Immos Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Ich möchte nicht, dass du mich liebst.
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