Tochter der Insel - Historischer Roman
keinen einzigen Moment zum Grübeln gekommen, hatte weder an Wangerooge noch an Immo und schon gar nicht an den Finanzberater gedacht.
Lea beschloss, sich nach dem Essen hinzulegen. Im Restaurant des Gasthauses bestellte sie das empfohlene Mittagsgericht, aß mit Appetit und lehnte sich schließlich seufzend zurück.
Als sie hörte, wie sich Schritte der Tür näherten, blickte sie auf. Das Rascheln seidener Röcke drang an ihr Ohr, und dann hielt sie unwillkürlich den Atem an. Es war Bell, die Kartenspielerin aus dem Warenhaus. Und sie war nicht allein. Ein dunkelhaariger attraktiver Mann ging an ihrer Seite, hielt ihren Ellenbogen und führte Bell zum Tisch. Er bestellte ein opulentes Mahl und den besten Wein.
Der Kellner katzbuckelte um die beiden herum, ganz so, als handle es sich um das Königspaar persönlich. Was für ein Fatzke!
Bells Augen trafen sich mit denen Leas, und da wusste sie, dass die Kartenspielerin dasselbe dachte. Bell verzog spöttisch den Mund und nickte ihr unmerklich zu. Lea hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Gleich würde die Fremde sich mit ihrem Begleiter über ihr prüdes Verhalten im Kaufhaus amüsieren. Doch die Frau schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln.
Lea schlief einige Stunden und machte danach einen kurzen Spaziergang vor dem Abendessen. Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer kamen ihr zwei Männer auf der Treppe entgegen. Der eine war glatzköpfig und gedrungen. Er hatte ein Kreuz wie ein Stier. Der andere war schlank und gut aussehend, der Mann, mit dem Bell gegessen hatte.
»Sie hat das Hotel bestimmt nicht verlassen«, sagte er gerade halblaut.
Der Stiernackige nickte ihm zu. »Dieses verdammte Luder. Ich hab das Gebäude die ganze Zeit beobachtet und könnte schwören, dass das Frauenzimmer sich noch hier aufhält.«
Sie verstummten, als Lea näher kam. Der Gutaussehende glitt an ihr vorbei wie eine Schlange. Lea sah ihnen nach und wandte sich dann ihrem Zimmer zu. Verwundert stellte sie fest, dass die Tür unverschlossen war. Sie musste in Gedanken gewesen sein, als sie aufgebrochen war. Wie leichtsinnig!
Lea trat ein und schloss die Tür hinter sich. Im gleichen Moment legte sich eine Hand über ihren Mund. Sie versuchte sich zu befreien, kämpfte verzweifelt und wehrte sich mit Händen und Füßen.
»Bitte erschrecken Sie nicht«, flüsterte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. »Ich bin es, Bell, und halte Ihnen nur den Mund zu, damit Sie nicht schreien. Es wird Ihnen nichts geschehen, das verspreche ich. Nur bitte, seien Sie leise. Ich bin auch gleich wieder verschwunden.«
Leas Herz schlug einen wilden Rhythmus, doch sie verhielt sich still. Aufseufzend ließ Bell sie aus der Umklammerung. Mit bleichem Gesicht stand die Kartenspielerin vor ihr. Um die Schultern trug sie eine kurze Pelzjacke über einem braun glänzenden, tief dekolletierten Kleid. Ihre Füße steckten in zierlichen Schühchen und die Hände in weißen Handschuhen. Im Halbdunkel des Abendlichts konnte Lea das Funkeln der Perlen um ihren Hals ausmachen. Sie verglich sich unwillkürlich mit dieser Frau. Was für ein Unterschied! Sie selbst trug ein einfaches dunkles Reisekleid mit weißem Kragen, derbe Schuhe und hatte das Haar zu einem Knoten aufgesteckt.
Doch Lea vergaß jeglichen Vergleich, als ihr die versteinerten Züge und die weit aufgerissenen Augen der Fremden auffielen. Es lag eine Verzweiflung darin, die so gar nicht mehr an das Strahlen am Morgen erinnern wollte. Lea erschrak. Wie konnte ein Mensch sich in kürzester Zeit derart verändern? Doch dann verstand sie plötzlich. Die Suche der Männer auf der Treppe hatte Bell gegolten.
»Sie sind hier vorerst sicher. Bleiben Sie für eine Weile.«
»Das kann ich nicht. Ich würde Sie in große Schwierigkeiten bringen.«
»Bitte bleiben Sie.« Lea merkte die Verwunderung der Lockenköpfigen.
»Sie sind großartig, meine Liebe. Ich danke Ihnen.« Aufatmend ließ Bell sich in einen Sessel fallen.
»Wie kann ich Ihnen sonst noch helfen?«
Bell legte die Hände um das Gesicht und ein leichtes Lächeln flog über ihre versteinerten Züge. »Einen guten Schluck auf den Schreck wäre das Richtige. Aber, ich denke nicht, dass Sie … «
»Gerne.« Lea zwinkerte ihr zu, als sei es ganz selbstverständlich, dass sie über Alkohol verfügte. Sie nahm ein kleines Glas und die Flasche mit der goldgelben Flüssigkeit zur Hand. Insgeheim dankte sie Herrn Hardenberg, der ihr den Rum aufgeschwatzt hatte.
»Vielen Dank.« Bell stürzte den
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