Tochter der Insel - Historischer Roman
bleiernen Schlaf gefallen. Der Journalist hatte sie zu ihrem Quartier gebracht und dafür gesorgt, dass Lea hinauf in ihr Zimmer kam. Er schien zu glauben, dass seine Geschichte sie so furchtbar mitgenommen hatte, hatte sich zerknirscht verabschiedet und war fast fluchtartig gegangen.
Lea setzte sich im Bett auf und lehnte den Kopf gegen die Wand. Tiefes, ersticktes Schluchzen brach sich erneut Bahn. Das Schicksal war grausam und es gab absolut nichts, was sie dagegen tun könnte. Der Traum von einer gemeinsamen Zukunft in Amerika war ausgeträumt, zerbrochen. Lea biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Nur der Schmerz ließ sie wissen, dass sie noch lebendig war. Was blieb ihr jetzt noch? Sie war allein, furchtbar allein.
Wohin sollte sie gehen? Zurück nach Wangerooge, wo Ferdinand Gärber auf sie lauerte? Nein! Außerdem besaß sie kaum noch Geld. Sie könnte nach St. Louis fahren und bei Bell um Aufnahme bitten, aber irgendetwas in ihrem Inneren sträubte sich dagegen. Sie würde Bell nur eine Last sein und im Paradies konnte sie einfach nicht arbeiten. Aber auf der Farm würde man sie auch nicht aufnehmen. Die Männer kannten sie überhaupt nicht und Joris hatte schon mit Rebekka im Streit gelegen. Rebekka!
Lea holte die Briefe ihrer Schwester hervor und las jeden einzelnen noch einmal, um ihr nahe zu sein. Manchmal konnte sie durch den Tränenschleier die Buchstaben kaum erkennen. Schließlich ließ sie die Bögen sinken und schloss die Augen. Die Trauer lähmte sie. Lea fühlte sich kalt und tot. Sie sehnte sich nach Immo, nach seiner Umarmung, dem Trost seiner Stimme. Doch er war nicht hier, würde nie mehr an ihrer Seite sein. Sie war allein.
Ich muss zur Farm, ging es ihr durch den Sinn. Wenn die Behörden Großmutter informiert haben, dann wissen Arne und Joris noch gar nicht, dass Rebekka tot ist. Sie müssen die Wahrheit erfahren.
2
R ufe drangen an Leas Ohr, Pferde wieherten, Peitschen knallten, Ochsenkarren setzten sich in Bewegung. Für sie war all das einfach nur eine Geräuschkulisse. Nichts ergab mehr einen Sinn. Kaum wusste Lea, wie sie es geschafft hatte, pünktlich an Ort und Stelle zu sein.
Hardy hatte sie schon erwartet und ihr forschend ins Gesicht geschaut. »Ist was passiert?«
Lea hatte kein Wort der Erklärung abgegeben. Sie konnte es nicht! Konnte nicht aussprechen, dass Rebekka tot war. Fast war es Lea, als sei sie mit ihr gestorben. Nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt.
Jetzt saß sie neben Hardy auf dem Kutschbock, der nichts als ein unbearbeitetes Holzstück mit einer alten Decke als Polster war. Acht Ochsen standen vor seinem klobigen Planwagen. Die Schädel mit den mächtigen Hörnern hielten sie gesenkt.
»Meine Ochsen und ich werden dich wie in Abrahams Schoß durch die Prärie schaukeln«, sagte der Alte und blinzelte Lea beruhigend zu. »Und nun will ich ein fröhlicheres Gesicht sehen. Die Fahrt ist nicht so schrecklich, wie man dir vielleicht weisgemacht hat.«
Der Ochsentreiber krempelte die Ärmel seines Leinenhemdes auf und spukte sich in die tellergroßen Hände. Seine Augen blitzten, als er die Lederpeitsche aus der Halterung nahm und Tabaksaft in den Staub spie. »Mein Gott, bin ich froh, wieder in die Prärie zu kommen. Habe genug von der Stadt. Quincy ist wie Fisch, es stinkt einem nach vier Tagen.«
Hardy fluchte nicht, wie Lea es von den anderen Treibern gehört hatte, sondern feuerte die Tiere mit lautem »Halleluja« und dem Knallen seiner Peitsche an. Die Räder ächzten und stöhnten über den Achsen und der Wagen krachte in allen Fugen. Unter den Hufen der dahintrottenden Tiere stiegen Staubwolken auf. Der Weg, dem die Ochsen folgten, war nichts weiter als eine tiefe Fahrspur in der Wildnis. Wind kam auf und trug den Duft von Tannen und Blumen zu ihnen herüber.
Hardy schnalzte mit der Zunge. »Fahrt zu, ihr Ochsen. Hü, ihr Engelchen.«
Das Knallen der Peitsche klang wie ein Schuss. Für einen Moment zogen die Ochsen den Planwagen ein wenig energischer. Doch schon nach kurzer Zeit fielen sie wieder in ihren behäbigen Trott zurück.
Der Himmel war blau, bis auf wenige kleine Wölkchen. Das Gelände war alles andere als flach. Es wimmelte von Schlaglöchern und Unebenheiten. Aber wenn Lea den Blick links und rechts des Weges schweifen ließ, dann wirkte das Land flach. Meile um Meile wogte üppiges Gras. Manchmal kamen sie an kleinen Seen vorbei, aus denen sich Bäche speisten, dann wieder an Wiesen mit
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