Tochter der Insel - Historischer Roman
die auf dich warten.«
Mit bleichem Gesicht schaute sie zu ihm auf. »Es tut mir leid. Ich hörte heute Nacht das Jammern des Zickleins und … «
»Warum, um Gottes willen, hast du mich nicht geweckt?«
Ja, warum war sie nicht auf diesen Gedanken gekommen? Beschämt drehte Lea sich um und wankte an ihm vorbei auf die Herde zu. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, doch sie würde jetzt nicht zusammenbrechen, sondern das tun, weswegen sie hierhergekommen war. Lea suchte nach dem mutterlosen Tier, ergriff das Zicklein und zog es zu sich heran. Die anderen Ziegen liefen meckernd davon. Das Neugeborene brüllte anfangs noch ängstlich, doch nach kurzer Zeit schmiegte sich der kleine Körper schon vertrauensvoll an Leas.
»Lass mich ihn tragen.«
Lea schüttelte stur den Kopf.
Schweigend legten sie den Weg zur Farm zurück. Beim Haus angekommen machte Joris dem Tier ein Lager aus Stroh, während Lea einen Krug mit entrahmter Milch holte. Sie tauchte einen Finger in die helle Flüssigkeit und ließ das Kleine saugen.
»Woher weißt du, wie man das macht?«
Lea sah das Staunen in Joris’ Gesicht.
»Wir haben auf der Insel auch Ziegen und Schafe gehalten. In der wärmeren Jahreszeit blieben sie draußen, aber den Winter verbrachten die Tiere in einem großen Stall. Als Einstreu wurde Dünensand genutzt. Ich habe sie als Kind oft genug auf die einzige gemeinsame Weide getrieben. Und es gab immer wieder Kälber oder Zicklein, die keine Mutter hatten.«
»Und du hast dich ihrer angenommen?«
Lea nickte.
Zweifelnd musterte er sie. »Ich werde aus dir nicht schlau.«
Lea versteifte sich. Rebekka hatte sich nie viel aus Tieren gemacht. Ob sie das Vieh auf der Farm überhaupt beachtet, geschweige denn versorgt, hatte? Wohl eher nicht. Sie wich Joris’ Blick aus und widmete dem Zicklein alle Aufmerksamkeit.
Das Kleine stand noch wackelig auf seinen Beinen und blickte sie mit großen Augen an. Es war nie leicht, Neugeborene das Trinken zu lehren. Allen Tierkindern schien es ähnlich zu gehen. Sie gelangten mit der dunklen Vorstellung auf die Welt, dass man mit Maul und Kopf fest stoßen müsse, um Milch zu bekommen. Deshalb versuchte das Ziegenkind, als es die Milch roch, auch sofort, den Krug umzuschubsen. Lea tauchte erneut einen Finger in die Milch, ließ das Kleine mit seiner rauen Zunge daran lecken und lockte es so allmählich mit seiner Nase in den breitrandigen Krug.
Nach und nach gelangte zumindest ein kleiner Teil der Milch in den Magen des Zickleins. Immer eifriger leckte das Kleine und steckte den Kopf in den Krug. Plötzlich schnaufte es Milch ein und nieste so prustend, dass das weiße Nass aus dem Eimer spritzte. Erschrocken stieß der kleine Kerl so kräftig gegen das Gefäß, dass sich ein großer Schwall Milch über den Kopf des Neugeborenen ergoss und ein kleiner Leas Kleid durchnässte.
Sie hatte Joris vergessen und lachte laut auf. Lea legte dem Zicklein die Arme um den Hals und streichelte es. Das Kleine schubste sie leicht an. Dann wand es sich aus der Liebkosung und vollführte einige kleine Sprünge im Stall. Wieder musste Lea lachen.
Ihr Blick traf den von Joris, der gegen einen Holzbalken lehnte und sie anstarrte. Sonnenstrahlen fluteten in staubigen Bahnen durch das Fenster. Sie verfingen sich in seinem Haar. Lea wollte sich abwenden, doch es gelang ihr nicht.
Joris lächelte ihr selbstvergessen zu. Sein Lächeln machte Lea benommen. Es ließ sein Gesicht weich werden und einen ganz anderen Mann zum Vorschein treten. Einen Mann, den sie noch nicht kannte. Eine halbe Ewigkeit lang starrten sie sich entrückt an.
Schließlich brach Joris den Bann. »Ich erkenne dich einfach nicht wieder. Seit deiner Rückkehr bist du völlig verändert. Kümmerst dich um Dinge, die dir früher einerlei waren. Der Gemüsegarten, die Sorge um die Tiere … «
Lea wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie versuchte verzweifelt, ihre Fassung zurückzugewinnen.
»Schwägerin, wir haben uns früher so häufig gestritten. Doch jetzt … Es ist alles anders, seit du zurückgekehrt bist. Wieso?«
Lea versuchte ein schiefes Lächeln. »Ich vermute, weil Arne nicht da ist. Es ging doch meistens um ihn. Ich habe übrigens nachgedacht, Joris. Über Arne, mich und die Farm. Du willst, dass ich gehe, und vielleicht ist es wirklich das Beste. Aber ich kann das nicht sofort tun. Bitte gib mir noch etwas Zeit!«
Leas Finger glitten abwesend über das Fell des Zickleins, während sie in Joris’ Gesicht nach
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