Tochter der Insel - Historischer Roman
Carlotta war? Oder gab es jetzt eine andere Frau in seinem Leben? Der Gedanke daran tat weh. Eine einzelne Träne rollte Lea über die Wange. Energisch wischte sie sie fort. Wangerooge – das war vorbei. Es hatte keinen Sinn, sich dem Heimweh zu ergeben. Sie musste nach vorne schauen. Hier, in Amerika, lag ihre Zukunft.
Das Knacken eines trockenen Zweiges ließ Lea zusammenfahren. Sie fuhr herum und presste ängstlich eine Hand gegen die Brust.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt!«
Joris lehnte gegen den Stamm eines Baumes und betrachtete sie mit zusammengekniffenem Mund. Er war am frühen Morgen aufgebrochen, um Zäune zu reparieren und die Schafe auf eine andere Weide zu treiben, und schien jetzt auf dem Weg zurück zur Farm zu sein. Seit jenem Tag im Stall hatte er ein Zusammentreffen mit ihr stets gemieden.
Sein Blick glitt von ihrem Hut, der achtlos am Boden lag, zu ihren feuchten Augen. Es schien ihn zu stören, sie hier vorzufinden, und Lea wusste auch, warum. Dies war sein Land, sein Grund und Boden. Sein persönliches Heiligtum, das er mit niemandem außer mit Arne teilen wollte. So viel hatte sie aus den wenigen Gesprächen mit ihm schon herausgehört.
»Was für eine hübsche Blume.« Sie wies auf eine Margerite, die in einem seiner Knopflöcher steckte.
»Ach die.«
»Sie gefällt mir. Ein leuchtender Gegensatz zu deinem finsteren Gesicht«, sagte sie um einen leichten Ton bemüht.
Joris riss die Blume aus dem Knopfloch und warf sie in die Luft. Der Wind griff nach den Blütenblättern und fegte die Margerite hoch, um sie dann sachte zu Boden gleiten zu lassen. Die Luft schien plötzlich zu vibrieren. Leas Hand streckte sich nach der Blume aus. Sie hob die Margerite vom Boden auf und hielt sie gegen das Licht, das durch die Baumzweige drang. Die Ärmel ihres Kleides fielen herab. Joris blickte für den Bruchteil eines Moments starr auf Leas unbedeckten Arm und runzelte die Stirn. Er schien einen Gedanken festhalten zu wollen, doch dann schüttelte er nur leicht den Kopf und streckte die Hand aus.
»Es ist meine Blume … «
»Du hast sie weggeworfen.«
Sie sahen sich an und Hitze stieg in Lea auf, drang ihr durch Mark und Bein. Sie durfte ihn nicht länger so anschauen. Gewaltsam riss Lea sich von Joris’ Augen los.
Sein Blick glitt zur Rundung ihres Nackens. Er sog hörbar die Luft ein.
»Diese Narbe … Woher rührt sie?«
Lea zuckte zusammen. Schnell zupfte sie ihr Kleid zurecht, um die alte Wunde, die sich wie eine Schlange fast bis zum Hals zog, zu verdecken.
»Es war eine Rute.«
An der pulsierenden Ader an seinem Hals sah sie, dass sein Herz schneller schlug.
»Wofür bist so grausam bestraft worden?«
»Dafür, dass ich die Lehren Luthers hinterfragt habe. Mir missfielen schon als Zwölfjährige so einige seiner Ansichten. Beispielsweise wollte mir nicht in den Kopf, dass es richtig sein sollte, einem Neugeborenen eine Rute in die Wiege zu legen. Luther soll es so gehalten haben. Seiner Meinung nach brauchte jedes Kind ein bestimmtes Maß an Zucht. Der Lehrer, den meine Großmutter vom Festland hat kommen lassen, um mich zu unterrichten, gab ihm recht und mein Aufbegehren ist mir schlecht bekommen. Er hat mich die Rute am eigenen Leib spüren lassen. Es war das letzte Mal, dass ich Widerworte gebrauchte.«
»Aber hat dich denn niemand vor diesem Menschen beschützt?«
»Nein! Meine Großmutter hielt viel von Luther und auch von dem Lehrer. Du kannst es nicht wissen, aber allein schon meine Existenz war ihrer Meinung nach eine Sünde. Und die Methoden des Lehrers der einzig richtige Weg, um das Sündhafte in mir zu bändigen.«
Lea stand auf und glättete ihr Kleid. Sie spürte Joris’ Mitleid und wollte nur noch fort von ihm.
»Wir sollten zurück zur Farm gehen.«
Schweigend folgte Joris ihr. Als ein gefällter Baum ihnen den Weg versperrte, streckte er instinktiv eine Hand aus, um Lea zu helfen.
Er strich über die raue Haut ihrer Finger, die Schwielen und Risse. »Du arbeitest zu viel!«
»Ich muss mir mein Brot doch verdienen.«
Er runzelte die Stirn. »Früher war es dir wichtig, dass deine Haut hell bleibt und deine Hände weich. Außerdem hast du dich aus Angst vor Schlangen niemals mehr als dreißig Schritte vom Haus entfernt. Und jetzt finde ich dich hier, mitten in der Prärie. Ich bring es einfach nicht zusammen! Weißt du noch, der Streit, bevor dein Mann fortging? Du hast gesagt, du würdest dich in der Weite der Prärie eingesperrt fühlen, hast Arne
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