Tochter der Insel - Historischer Roman
erneut eine dunkle Hand aus dem Inneren und winkte. Joris schnalzte mit der Zunge und die Räder setzten sich in Bewegung.
Sie verhalfen Sklaven zur Flucht! Joris’ nächtliche Ausflüge, das fehlende Brot am Morgen, die verschwundenen Wolldecken. Jetzt ergab alles einen Sinn. Gott im Himmel, wie gefährlich das war! Lea legte ihre Hände an einen Baumstamm, ohne die narbige Oberfläche zu spüren.
Der Fremde sah dem Zweispänner nach. Lange blieb er reglos stehen und Lea, die sich wieder in Bewegung setzte, sah, dass die Schultern des Mannes herabsanken. Er drehte sich der Haustür und ihr zu. Jetzt konnte sie ihn erkennen und erschrak über sein graues, übernächtigtes Gesicht. Als ihre Augen sich trafen, zuckte er zusammen.
»Mein Gott! Stehen Sie schon lange dort?«
»Lange genug!«
»Ach herrje. Genau das wollte Joris verhindern. Wir wollten eigentlich nicht hier anhalten, doch es fehlte an Essbarem und Decken.« Er trat einen Schritt auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Nikolas Holzbart, meines Zeichens Fotograf. Sie müssen Lea sein. Es ist mir auch unter diesen besonderen Umständen ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«
Lea gefiel der Fremde mit den grauen Schläfen und der tiefen, beruhigenden Stimme. Seine Augen blickten wach und aufmerksam. Er trug das lange silbrige Haar zu einem Zopf gebunden.
»Ich habe gehört, dass Sie eine Tasse Tee verdienen. Aber die werde ich Ihnen nur anbieten, wenn Sie mir erklären, was das alles zu bedeuten hat und wohin Joris unterwegs ist.«
Der Fremde wand sich unter ihrem Blick. »Das soll er Ihnen selbst erzählen, meine Liebe. Keine Stunde und Joris ist wieder hier. In der Zwischenzeit können wir unseren Tee genießen und ich erzähle Ihnen dabei, was mich in die einsame Prärie treibt.«
»Nicht das, was ich gesehen habe?«
»Nicht nur! Wie gesagt, ich bin Fotograf.«
Sie gingen ins Haus und kurze Zeit später goss Lea den Tee ein.
»Ach ja! Joris hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Engelke eine gesunde Tochter geboren hat. Es war mit großen Schmerzen verbunden, das Kind sehr schwer und außerdem lag es nicht richtig. Die Hebamme und Joris haben wohl gekämpft wie die Löwen. Die Schwangere war nach seinen Worten unendlich tapfer. Nach mehreren Versuchen hat Joris das Kind schließlich drehen können und dann ging auf einmal alles ganz schnell.«
»Das freut mich«, sagte Lea erleichtert. »Und jetzt will ich wissen, warum Sie hier sind.«
»Mich treibt die Hoffnung auf gute Bilder.« Nikolas Holzbart neigte leicht den Kopf. »Bislang habe ich allen weiblichen Versuchungen widerstanden und kann deshalb unbeschwert durch die Lande ziehen. Die Kamera ist mein Leben und meine Leidenschaft. Ich fotografiere für die Illustrierte Mannigfaltigkeit , ein Bilderblatt aus Deutschland.«
Er wartete kurz und hob fragend eine Augenbraue. Doch als Lea kein Zeichen des Erkennens gab, setzte er zu einer Erklärung an: »Die Mannigfaltigkeit ist eine vierzehntägige Zeitschrift zur Unterhaltung, Belehrung und Erheiterung. Sie beinhaltet Beschreibungen aus aller Welt, Geschichten und witzige Anekdoten. Da die besten Schilderungen nur halb so viel wert sind, wenn man kein Bild vor Augen hat, werden meine Fotos zur Illustration des Blattes verwendet. Ein Lithograph lässt Zeichnungen nach meinen Aufnahmen fertigen und nutzt diese als Druckvorlagen.«
Lea blickte den Fotografen verblüfft an. »Gibt es denn für solch ein Blatt genügend Leser? Die meisten geben sich doch nur mit gehobener Literatur zufrieden. Ich will Ihre Illustrierte nicht herabsetzten, aber … «
»Sie tun nichts dergleichen. Die Gebildeten, das sind nicht unsere Käufer. Wir bringen Menschen zum Lesen, die den Buchhändler sonst nur wegen eines Gesangbuchs für die Sonntagsschule angesprochen hätten. Durch unsere Mannigfaltigkeit wird eine ganz neue Gruppe von Interessenten für den Buchhandel gewonnen. Einfache Leute, Handwerker, Bauern. Da diese Menschen besonders anfällig für Zeichnungen sind, werben wir mit großen Plakatbögen. Die Bilder sind unser Lockvogel für das gemeine Volk.«
»Sie bringen die Leute zum Lesen – das ist das Einzige, was zählt«, begeisterte sich Lea.
Nikolas Holzbart strahlte. »Nachdem ich vor einigen Wochen wieder einmal Italien bereist habe, wartet mein Geldgeber jetzt auf Fotos aus Amerika – mit entsprechenden Geschichten natürlich. Ich war schon öfter hier. Das Land bietet Stoff genug für so manchen Artikel. Im Westen
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