Tochter der Insel - Historischer Roman
ihr, Nikolas.«
»Also gut. Die Organisation hat in den letzten vierzig Jahren Tausende von Sklaven auf geheimen Wegen nach Kanada gebracht. Die Farbigen erfahren in gesungenen Botschaften Zeit und Ort des Aufbruchs. Die gefährlichste Aufgabe übernehmen vielleicht diejenigen, die sich als Sklaven ausgeben und die Schwarzen vom Gelände der Besitzer bringen. Sobald die Flüchtlinge genug Abstand zwischen sich und die Plantagen gebracht haben, erhalten sie neue Kleidung und eine andere Identität. Unterstützer der Organisation bieten den Schwarzen Unterschlupf in Scheunen, Häusern und Kirchen. Die Flüchtlinge werden mit Booten von Missouri über den Mississippi nach Illinois gebracht. Die Fluchtroute verläuft ganz in der Nähe dieses Dorfes. Daher sind wir auf Sympathisanten angewiesen, die den Schwarzen Unterkunft gewähren.«
»Einer dieser Sympathisanten bin ich«, sagte Joris ruhig.
»Wo bringst du die Flüchtlinge unter?«
»Du kennst doch die alte Hütte mit den Grassoden.«
»Die Wohnhöhle der ersten Siedler?«
»Richtig. Wenn ich eine Botschaft erhalte, dann sorge ich dafür, dass dort warme Decken und Proviant bereitliegen. Irgendjemand bringt die Schwarzen in der Nacht und ein anderer holt sie in der folgenden wieder ab.«
»Aber die Unterkunft ist doch nicht mehr als ein Loch.« Lea erschauderte. Sie dachte an den Ausflug, bei dem Joris ihr das Erdloch gezeigt hatte. Es besaß nur eine Tür und ein winziges Fenster. Der First bestand aus Holz. Wilde Blumen hatten sich ausgesät und gaben dem Dach eine bunte Färbung. Joris hatte ihr erklärt, dass die Erde vor dem Bau zwei bis drei Fuß tief ausgegraben wurde. Zumeist am Südhang eines Hügels, um etwas Schutz gegen die winterlichen Stürme aus Nord und Nordwest zu haben.
Lea erinnerte sich an den Blick ins Innere der Behausung und das Gefühl, vor einem finsteren Loch zu stehen. Die Wohnhöhle hatte einen Fußboden aus festgetretenem Lehm. Ein Ofen beherrschte den Raum, dessen Abzugsrohr oben durch das Grassodendach ragte. Ein Tisch und zwei Truhen dienten als Sitzgelegenheit. Ihr Blick war auf eine Eidechse an der Wand gefallen und sie hatte sich trotz des Sonnenlichtes, das durch die geöffnete Tür fiel, unbehaglich gefühlt. Wie mochte es erst sein, wenn der Eingang verschlossen war und Dunkelheit die Flüchtlinge umfing?
Joris schien ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet zu haben. »Es ist zu ertragen, Lea. Arne und ich haben unsere ersten Monate dort verbracht, daher weiß ich es genau. Niemand würde auf den Gedanken kommen, dass sich im Grashaus jemand versteckt. Und so soll es auch sein. Es wird noch besser, wenn die Mühle erst fertiggestellt ist. Ich werde sie als Deckung benutzen. Hinter einem Dutzend Säcken Mehl wird ein Flüchtling nicht auffallen.«
Lea spürte, wie ihr Herz vor Aufregung schneller schlug. Sie war sich der Gefahr, in die sich die Männer brachten, bewusst und der spannenden Erwartung, mit der die beiden sie betrachteten.
»Ihr seid wahre Helden!«, sagte sie schließlich mit bebenden Lippen.
Joris tat einen tiefen Atemzug und Lea sah die Erleichterung in seinen Augen.
Nikolas legte schweigend weitere Aufnahmen auf den Tisch. Lea musste sich zwingen, die Augen nicht abzuwenden. Misshandelte Schwarze und Frauen, die tote Kinder in den Armen hielten und sie anklagend dem Betrachter entgegenstreckten, waren darauf zu sehen. Ihre Körper wirkten ausgemergelt, die Gesichter hoffnungslos. Lea sah Menschen vor erbärmlichen Hütten und einen Mann, dessen Rücken blutig von Peitschenschlägen war.
»Sie leiden – und die Welt sieht zu. Ich weiß nicht, ob mein Verleger auch nur eines dieser Bilder veröffentlichen wird, doch ich will versuchen ihn dazu zu überreden. Den Farbigen zur Flucht verhelfen ist das eine. Doch es reicht nicht! Die Menschheit muss wissen, was hier geschieht.« Nikolas war immer lauter geworden.
Schließlich fuhr er ruhiger fort: »Ich habe nicht nur die Gesichter der Farbigen und das, was ihnen widerfahren ist, festgehalten, sondern auch ihre Lieder und Geschichten. Sie haben mir fast das Herz gebrochen. Kein Mensch sollte erleiden müssen, was sie durchmachen. Die Sklaverei ist etwas Schlimmes. Es kann nicht Gottes Wille sein, dass ein Mensch Besitz eines anderen ist.«
Für einen Moment schwiegen sie, dann stand Joris auf und holte Gläser aus dem Schrank.
»Lasst uns auf das Erreichen unserer Ziele anstoßen und auf die Freundschaft!«
»Und dann werde ich euch Aufnahmen zeigen,
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