Tochter der Insel - Historischer Roman
verblasste ihre Rastlosigkeit, wie alles Gute und Schlechte im Leben einmal verblasst. Mehr und mehr kehrte ihr inneres Gleichgewicht zurück und Lea hatte irgendwann das Gefühl, einen Abschnitt ihres Lebens hinter sich gelassen zu haben.
Es war später Herbst, als Lea sich während eines Streifzugs unversehens auf einer kleinen Wiese in der Nähe eines Friedhofs wiederfand. Durch die ausladenden Zweige der Laubbäume, die sich wie ein Zelt über die Lichtung spannten, fielen Sonnenstrahlen und malten wandernde Schatten auf das Grün. Lea war wie hypnotisiert. Sie konnte sich nicht sattsehen an den Lichtpunkten und ließ sich staunend auf einen Baumstumpf nieder.
Vergessene schwarze Beeren leuchteten im späten Sonnenlicht. Alles war still und schien so unberührt, als habe vor ihr noch kein Mensch seinen Fuß hierher gesetzt. Der Ort hatte etwas Verzaubertes. Es war, als ob er darauf gewartet hätte, von ihr entdeckt zu werden.
Und an diesem Ort kam Lea schließlich mit sich selbst ins Reine. Jeden Sonntag spazierte sie zu der Lichtung, setzte sich in den milden Schatten der Bäume und dachte nach. Anfangs kreisten ihre Gedanken um Joris, ihre Gefühle für ihn und ihre Schuld. Doch mit der Zeit gelang es ihr, sich davon zu lösen.
Ja, sie hatte sich in Joris verliebt, aber es war keine unauslöschliche, unabänderliche Liebe gewesen. Heute erkannte Lea, dass sie aus ihrer Suche nach Geborgenheit und Gemeinschaft entsprungen war und aus dem Verlangen, das Joris in ihr geweckt hatte. Ihr Körper war seinen eigenen Gesetzen gefolgt. Wenn sie nur mit Joris darüber sprechen könnte! Doch er hatte keinen ihrer Briefe beantwortet.
Lea dachte an Immo, an seinen Platz in ihrem Herzen. Sie wünschte sich plötzlich mit einer Heftigkeit, die sie erschreckte, nach Wangerooge zurückkehren zu können. Doch sie waren nicht für einander bestimmt. Genauso wenig, wie sie für Joris bestimmt gewesen war. Lea dachte an die Zeit auf der Farm zurück. Und auf einmal tat es nicht mehr weh.
Der Wind wehte manchmal den Duft wilder Blumen bis zu ihrem Schreibtisch herüber. In solchen Momenten konnte es noch passieren, dass Lea sich nach der Prärie sehnte. Doch diese Momente dauerten nie lange.
Während die Sonntage vergingen, erkannte Lea, dass die Zeit mit Joris wichtig für sie gewesen war und zu einem Wendepunkt in ihrem Leben geführt hatte. Seine Ablehnung hatte sie dazu gebracht, auf eigenen Füßen zu stehen. Schon aus diesem Grund war sie ihm dankbar und würde ihn niemals vergessen.
Jetzt konnte sie sich von dem Vergangenen lösen und der Zukunft zuwenden. Sie erkannte schnell, dass das Schreiben ihre Berufung war. Durch nichts und niemanden würde sie sich von ihrem Weg abbringen lassen!
Leas Streifzüge wurden seltener, ihr Lachen häufiger. Sie erlebte ihren ersten Winter in Amerika, verbrachte lange Abende vor dem warmen Ofen und musste sich morgens durch hohe Schneewehen kämpfen. Lea arbeitete sich mehr und mehr bei der Mannigfaltigkeit ein und wandte sich mit Leidenschaft Nikolas’ Fotos, ihren Artikeln und Berichten zu.
Die beiden Freundinnen näherten sich jetzt den Flussbooten. Bell wies auf die dickbäuchigen Schiffe und hielt sich die Ohren zu. Ihr Blick glitt von den mit Ochsen oder Pferden bespannten Fuhrwerken, die mit Waren beladen wurden, zu dem Stadtteil hinüber, auf den sie zusteuerten. Dächer und Häusergiebel schimmerten im Licht der letzten Sonne.
»Die unteren Räumlichkeiten in eurem Stadthaus stehen noch leer. Weißt du, wer sie nutzen wird?«, fragte Bell.
»Wir! Nikolas hat den deutschen Verleger überreden können, eine eigene Druckerei für Amerika hier einzurichten. Stell dir vor, Bell, ich werde dabei sein, wenn der Setzer meine Texte zusammenstellt.«
»Auf diesen Nikolas Holzbart bin ich wirklich neugierig.« Bell strich sich nachdenklich einige Haarsträhnen aus der Stirn, die der Wind gelöst hatte.
»Er wird dich bestimmt fotografieren wollen. Die schönste Pokerspielerin im ganzen Westen!«
»Und die Unterkunft bei dieser Witwe Dreesmann ist gut?«, lenkte Bell die Freundin geschickt ab.
»Ich bin zufrieden. Das Zimmer ist zwar klein und spärlich möbliert, aber an der Südseite befindet sich ein Garten, den ich nutzen darf. Es ist wunderschön dort und sehr ruhig, da eine hohe Steinmauer ihn umgibt. In meiner freien Zeit bin ich oft dort und lese oder schreibe. Die Miete beinhaltet auch ein sehr reichhaltiges Frühstück. Du siehst, ich kann mich nicht
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