Tochter der Insel - Historischer Roman
eine Illustrierte schreiben würdest! Ich bin so stolz auf dich und will sehen, ob ich nicht ein Exemplar der Mannigfaltigkeit bekommen kann.
Du fragst, wie es auf der Insel aussieht. Es ist so kalt und ungemütlich, dass selbst der letzte Gast die Segel gestrichen hat.
Lea, ich will dir noch von einem Unglück erzählen, bei dem ich viel an dich denken musste. Am 6. November hat ein Auswandererschiff auf der Reise nach Amerika bei Spiekeroog Schiffbruch erlitten. Viele Menschen fanden den Tod. Auch auf Wangerooge sind einige Verunglückte angetrieben. Es war grausig, Lea. Wir haben sie auf dem Friedhof begraben.
Du fragst in deinem Brief nach den Sommergästen und der Vermietung. Es waren in diesem Jahr so viele Erholungssuchende wie noch nie zuvor auf Wangerooge. Wir konnten nicht dagegen an. Mehr als fünfzig Helfer hat die Hofrätin vom Festland ordern müssen. Köche, Diener, Wäscherinnen und viele mehr. Dazu Musiker und andere Künstler zur Unterhaltung. Tagsüber konntest du auf der ganzen Insel Gäste antreffen, sie flanierten selbst durch die fernsten Dünen. Zu den Badezeiten war ein Drängeln am Strand, wie du es noch nicht gesehen hast.
Zumindest erzählen das Stine und die vier anderen Witwen, die für die feinen Damen die Badekarren ins Wasser schieben und wieder herausziehen. Stundenlang haben sie in der Hitze schuften müssen und zuletzt gebetet, dass der Sommer endlich zu Ende geht. Die männlichen Gäste haben so viele Seehunde geschossen, dass ich dachte, es seien gar keine mehr übrig geblieben.
Abends wurde es dann so richtig gemütlich – zumindest für die, die keine Arbeit damit hatten. Gefärbte Lampen schaukelten im Gesträuch beim Pavillon. Sänger gaben ihr Bestes, Musiker spielten auf und die Gäste tanzten, lauschten oder labten sich am Tee. Manchmal ließen sie sich auch von einem Feuerwerk belustigen. Du liest richtig, Lea: Feuerwerk! Die Hofrätin ließ Türme von alten Körben aufbauen. Diese wurden entzündet und stürzten unter vielen Flammen in sich zusammen. So eine prächtige Unterhaltung wie in diesem Jahr hat die Insel noch nie gesehen. Für die Hofrätin Westing und ihren Gatten war diese glänzende Saison allerdings auch die letzte. Ist vielleicht das Beste, denn was das Leiten des Badebetriebs angeht, ist der Geheime Hofrat ja schon lange keine Hilfe mehr. Ein Hauptmann Keppel aus Oldenburg wird sein Nachfolger und die ihn gesehen haben, sagen, dass er ganz umgänglich sei.
Das Jahr war auch für mich ein gutes. Ich habe das Haus bis unters Dach vermieten können. Die Hofrätin hat gute Preise für uns Insulaner ausgehandelt und so muss ich diesen Winter wohl nicht darben.
Lea, einen Wermutstropfen gibt es allerdings doch. Es ist dieser schreckliche Kerl, der sich das Haus deiner Großmutter unter den Nagel gerissen hat. Ja, ich sage unter den Nagel gerissen, denn ich will nicht glauben, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Ich kannte Frau Brons und weiß mit Bestimmtheit, dass sie niemals all ihren Besitz aufs Spiel gesetzt hätte. Und ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, dass man diesem Burschen irgendwie doch noch beikommen kann.
Immo und die Hofrätin sind nach Bremen gefahren, um Erkundigungen über ihn einzuziehen. Hofrätin Westing sagte, sie wolle einmal abklopfen, ob mit dem Windhund auch alles seine Ordnung habe. Genützt hat es nichts. Aber Immo hat Andeutungen gemacht. Er bleibt dran an der Sache. Es scheint nicht alles zu stimmen mit diesem feinen Burschen. Aber der Kerl ist glatt wie ein Aal. Der versteht sich aufs Reden wie kein Zweiter und auch darauf, Zwietracht zu säen.
Nun aber genug von diesem Menschen. Lea, ich will gleich zu Immo rennen und ihm von deinem Brief erzählen. Deine Adresse soll er auch haben, dann schreibt er dir sicherlich bald. Im letzten Jahr hat er mit der Schule begonnen. Immo ist ein so guter Lehrer. Die Kinder gehen fröhlich zum Unterricht – das hat es hier noch nie gegeben. Vielleicht liegt es daran, dass Immo den Rohrstock nicht gebraucht und keine Ohrfeigen verteilt.
Er selbst ist weniger fröhlich. Ich glaube, das kommt davon, dass du fort bist. Er vermisst dich, Lea, das merke ich. Dieser dumme Junge! Das hätte ihm schließlich auch eher klar werden können, dann wärst du vielleicht noch hier.
So, jetzt weißt du erst mal alles. Eines noch: Solltest du Heimweh haben, dann zögere keine Minute und komme nach Hause!
Es grüßt dich von Wangerooge
Hiske
Immos Brief kam wenige Tage später. Lea
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