Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
gut aus Amisaya, wo es nie genug für alle gab. Nur die Kälte war neu und fremd, in Amisaya herrschte ein immer gleichbleibenes Klima: trocken, wasserlos, staubig, wenn man von den eisigen Stürmen absah, die mit der Dämmerung aufkamen und den Sand durch die Ödnis wirbelten. Er hatte als Jäger oft genug die Jahreszeiten beobachtet, bemerkt, wie sich die Kleidung der Menschen den Veränderungen anpasste. Er hatte Regen gesehen, Sonne, Schnee. Und danach das Erblühen der Natur wie ein Versprechen auf den Kreislauf des Lebens.
In diesem Moment sah er sie. Er erkannte sie sofort. Nicht, weil ihm die Ähnlichkeit mit Strabo – verblüffend genug – aufgefallen wäre, sondern weil sie mit der Luft sprach, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Markus allerdings wusste es besser, und das machte seine Mission nicht gerade leichter: Sie unterhielt sich mit einem Jäger. Das war äußerst ungewöhnlich, es sei denn, der Jäger war in der Lage, auf sie einzugehen. Dazu musste er allerdings einen Teil seiner Persönlichkeit wiedergewonnen haben.
Er verfluchte sein Unvermögen, seine ehemaligen Kollegen wahrnehmen zu können, und schlenderte unauffällig näher. Sie war so in das Gespräch mit dem Unsichtbaren vor ihr vertieft, dass sie Markus nicht beachtete. Jetzt zeigte sie der Luft vor ihr sogar die Uhr an ihrem Handgelenk.
Er blieb abseits stehen und beobachtete, wie sie sich energisch umdrehte und zu einem kleinen Restaurant ging. Nicht viel mehr als ein Stehlokal, das im Sommer einige Tische auf dem Marktplatz davor stehen hatte.
So, das war also Strabos Tochter. Die sich mit Jägern unterhielt, offenbar sogar mit ihnen stritt. Er rieb sich das Kinn. Hatte der Wächter die Wahrheit gesagt? Sollte es wirklich Ramesses sein, dessen Vater sich damals gegen Strabo gestellt und von diesem getötet worden war? Wie konnte er das herausfinden? In diesem Fall hätte er einen Verbündeten. Andere Möglichkeiten ergaben sich, neue Pläne tauchten in seinem Kopf auf. Pläne, die seinen Atem stocken ließen.
Er schlenderte wie unabsichtlich, wie ziellos über den Marktplatz, musterte jedoch scharf seine Umgebung. Manchmal fühlten die Menschen die Gegenwart gewisser Jäger, das hatte er schon früher beobachtet. Sie mieden dann den Ort, an dem er sich aufhielt. Und tatsächlich, er musste nicht lange warten, um dieses Phänomen zu entdecken. Eine Gruppe von Männern und Frauen, die Männer in Anzügen, die Frauen in Kostümen unter den Mänteln, strömte über den Platz, und das Grüppchen teilte sich erstaunlicherweise an einem Punkt, um dann wieder zusammenzufließen. Als stünde dort ein unsichtbares Hindernis. Ob ihnen das überhaupt bewusst war? Nein, sie unterhielten sich weiter.
Er wandte sich ab, ehe der Jäger sein Interesse spüren konnte, und machte eine Runde durch den Markt. Sein Magen knurrte lauter. Hungerfühl war etwas, das ihm von Amisaya nur allzu bekannt war. Er tastete nach der Geldbörse. Er hatte keine Ahnung, wie viel Geld sie beinhaltete – oder vielmehr wie viel er mit diesen Scheinen und Münzen kaufen konnte, aber für eine Mahlzeit würde es wohl reichen, und dies war zugleich eine gute Gelegenheit, ein paar Worte mit Strabos Tochter zu wechseln.
Er wandte sich wieder dem Restaurant zu und schlenderte näher, wie um sich die Speisekarte anzusehen, die neben dem Eingang hing. Dabei blickte er unauffällig durch das Fenster. Dort war sie. Sie begrüßte soeben lächelnd eine etwas kleinere blonde Frau. Er beachtete die andere nicht, bis sie sich umdrehte.
Und da war ihm, als müsse sein Herz stehen bleiben.
***
Gabriella konnte sich an diesem Tag kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. Ihr Lächeln fiel manchmal zu flüchtig aus, manchmal zu übertrieben. Sie war unkonzentriert, wann immer sie an das Gespräch mit diesem Grauen dachte, und aufgeregt, wenn ihr die Verabredung mit ihm wieder einfiel.
Sie sah immer wieder zur Tür hin, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich auf den Abend freute. Das war doch fast so etwas wie ein Date, oder? Auch wenn es nur den Grund hatte, ihn auszufragen. Sie dagegen würde sich natürlich hüten, zu viel zu sagen oder auch nur ein Wort über ihren Vater zu verlieren. Dessen Rolle in ihrem Leben hatte sie noch nicht wirklich begriffen und schon gar nicht akzeptiert, auch wenn ihr etwas in ihrem Unterbewusstsein zuraunte, dass sie sich besser damit abfinden sollte.
Rita war schon da und hatte begonnen, in der Küche die Zutaten vorzubereiten. Sie
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