Tochter der Träume / Roman
von furchtbaren Alpträumen geplagt wurde, in denen es um ein schreckliches Ereignis ging, bei dem viele seiner Freunde gestorben waren. Er und seine Kumpels waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und mitten in eine tödliche Auseinandersetzung zweier rivalisierender Banden geraten. Ich konnte recht gut mit meinem Traumwesen-Dasein und dem damit verbundenen Schrecken umgehen, aber was sich Menschen untereinander zuweilen antaten, machte mir wirklich Angst.
John, so hieß mein Patient, war schon einige Male in meiner Sprechstunde gewesen. In unseren früheren Sitzungen hatte ich ihn den Vorfall, der ihn bis in seine Träume verfolgte, in verschiedenen Varianten beschreiben lassen. Auf diese Weise konnte ich die Teilereignisse isolieren, die John am meisten zugesetzt hatten, so dass ich mich nun darauf konzentrieren konnte, ihm hoffentlich bald zu einem normalen, gesunden Schlaf – und Dasein – zu verhelfen.
Johns Hauptthema waren Gefühle von Hilflosigkeit, da er nicht imstande gewesen war, seine Freunde zu retten. Er litt unter dem Phänomen, das gemeinhin als das »Überlebenden-Syndrom« bekannt war. John hatte während der Schießerei eine Kugel ins Bein abbekommen, was von allen Verletzungen die geringfügigste gewesen war. Die Heilung war gut verlaufen, einige seiner Freunde hingegen waren gestorben, einer war für immer gelähmt, ein anderer hatte wochenlang im Krankenhaus gelegen, bis er mit schweren, teilweise bleibenden Hirnschäden aus dem Koma erwachte.
Kein Wunder, dass es der arme Kerl so schwer hatte. Aber er machte zusehends Fortschritte. Die Träume waren nicht mehr so intensiv, und je länger wir darüber sprachen – je öfter ich nur zuhörte, ohne zu werten –, desto leichter fiel es ihm, das Erlebte als Teil seines Lebens anzunehmen und nach vorn zu blicken.
Als John gegangen war, fühlte ich mich geschlaucht von der emotionalen Arbeit, aber alles in allem war es ein wunderbarer Morgen gewesen. Es machte mir Freude, mit ihm und Megan zu arbeiten. Ihre Themen standen nicht im Zusammenhang mit Horrorwesen, sprich Dämonen in körperlicher Gestalt. Die Bilder, die John in seinen Träumen sah, wurden zum Teil von Traumwesen erzeugt, die ihm halfen – ihn sogar zwangen –, den größeren Zusammenhang zu sehen. Diese Traumwesen versuchten nicht, ihn zu töten.
Mit anderen Worten, diese Träume konnte ich meinen Patienten durchaus zumuten.
Am Mittag verspürte ich Appetit auf eine warme Suppe und ein Sandwich, und so ging ich mit Bonnie in ein kleines Bistro gleich um die Ecke der Klinik. Ich bestellte Tomatensuppe und Thunfischsalat mit Vollkornbrot. Futter für die Seele. Bonnie bestellte sich ein Reuben-Sandwich mit einer Extraportion Sauerkraut.
Wir setzten uns an einen Ecktisch in die Nähe des Fensters, um die Passanten zu beobachten, die uns allerdings ebenso beim Essen zusehen konnten.
»Also«, fing Bonnie an, als ich gerade mal den ersten Bissen im Mund hatte. »War Noah so gut, wie er aussieht?«
Prompt verschluckte ich mich, und fast glaube ich, dass sie es darauf angelegt hatte. Ich trank einen Schluck Wasser.
»He, was fällt dir ein?«, krächzte ich. »Willst du mich umbringen?«
Sie tätschelte meinen Rücken, wie man es bei einem Baby tat, das Bäuerchen machen sollte. »Tut mir leid, Süße. Aber er war doch der Grund, weshalb du heute Morgen so fertig ausgesehen hast, nicht wahr?«
Natürlich hätte ich alles abstreiten können, aber wozu? Wenn es einen Menschen gab, der sich mit mir freute, dass ich mit Noah geschlafen hatte, dann war es Bonnie.
»Er ist nicht mehr mein Patient.« Das war Bonnie wahrscheinlich egal, aber ich hatte es trotzdem klarstellen wollen.
Bonnie hob eine gefärbte, perfekt in Form gezupfte Augenbraue. »Ihr könnt trotzdem noch Doktor spielen.«
»Jetzt hör aber auf!« Doch ich lachte, wir lachten beide.
»Bist du glücklich?«, fragte sie, nachdem sie einen Schluck von ihrem Eistee getrunken hatte. »Bringt er dich zum Lachen?«
Die Frage machte mich ein wenig verlegen, und ich rutschte auf meinem Sitz hin und her, sah auf mein Sandwich und zupfte daran herum. »Ja, ich denke schon. Es ist … kompliziert.« Herrje, jetzt klang ich schon wieder wie aus einem TV -Melodram.
Sie lächelte – mitfühlend, wie ich fand. »Ich bin da, falls du mich brauchst, Kleine.«
Ich nickte und spürte einen kleinen Kloß im Hals. »Danke.«
Nach dem Essen machten wir uns auf den Weg zurück zur Klinik und hatten sogar noch fünf
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