Tochter Der Traumdiebe
über diese Straße käme kein passender Wagen, der uns rechtzeitig nach Bek bringen könnte, und voilä, auf einmal materialisiert dieser rettende Engel.« Die Augenbrauen schienen ein Eigenleben zu besitzen, auch die Augen waren sehr beweglich. Er hatte ein hageres Gesicht und lächelte schief. Wäre nicht die Uniform gewesen, ich hätte ihn für einen typischen Gast einer Berliner Kneipe halten können. Er strahlte mich an, den Irrsinn im Blick, aber recht wohlwollend.
»Ich bin Rudolf Hess, der Stellvertreter des Führers«, sagte er. »Man wird Ihnen dies nicht vergessen, Standartenführer.«
Ich erinnerte mich, dass Rudolf Hess einer der ältesten Hitler-Kumpane war. Den Papieren entsprechend, die ich bei mir hatte, stellte ich mich ihm als Standartenführer Ulrich von Minct vor, zu Ihren Diensten. Es sei mir eine Ehre, ihm meinen Wagen anzubieten.
»Ein Engel, ein rettender Engel«, sagte er noch einmal, indem er einstieg und sich neben mich setzte. »Es sind die von Mincts, Standartenführer, die Deutschland retten werden.« Die Hülle mit dem Schwert bemerkte er kaum. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seinem Fahrer lautstarke Anweisungen zu geben. »Die Gläser! Die Gläser! Es wäre eine Katastrophe, wenn ich sie nicht hätte!«
Der SA-Mann beugte sich in den Kofferraum des Wagens und holte vorsichtig einen großen Weidenkorb heraus, den er zu unserem Wagen brachte. »Ich bin strenger Vegetarier«, erklärte er. »Ich muss meine eigenen Lebensmittel überallhin mitnehmen. Alf… ich meine der Führer …«Er sah mich kurz an wie ein kleiner Junge, der bei etwas Verbotenem erwischt worden ist. Offensichtlich war er schon früher ermahnt worden, diesen Spitznamen nicht zu benutzen. »Auch der Führer ist Vegetarier, aber er ist darin für meinen Geschmack nicht streng genug. Über die Küche führt er meiner Meinung nach eine viel zu laxe Aufsicht. Deshalb nehme ich mein Essen mit, wenn ich mich auf Reisen begebe.«
Der Stellvertreter des Führers verabschiedete sich förmlich mit dem Hitlergruß von seinem Fahrer. »Warten Sie hier beim Wagen«, wies er ihn an. »Wir schicken aus dem nächsten Ort Hilfe, oder aus Bek, falls wir unterwegs niemanden finden.« Er setzte sich wieder neben mich und Oona legte den Gang ein und fuhr weiter. Hess zuckte nervös und machte eigenartige kleine Bewegungen mit den Händen. »Sie heißen von Minct, sagten Sie? Dann müssen Sie mit unserem großen Paul von Minct verwandt sein, der so viel für das Reich getan hat.«
»Ich bin sein Vetter«, erklärte ich. Es fiel mir schwer, vor diesem Mann Angst zu haben.
Hess bestand darauf, mir die Hand zu schütteln.
»Es ist mir eine Ehre«, erwiderte ich.
»Oh«, er nahm die reich verzierte Mütze ab, »ich bin einer der alten Kämpfer. Einer von der alten Garde. Ich war mit Hitler in München und in Stadelheim. Wir sind wie Brüder. Ich bin der Einzige, dem er wirklich traut und dem er sich anvertraut. Wenn ich nicht wäre, Oberst von Minct, dann hätte hier wahrscheinlich noch nie jemand etwas vom Heiligen Gral gehört und wir wüssten nicht, was er für uns leisten kann.«
Er beugte sich vertraulich zu mir herüber. »Hitler, so sagt man, kennt das Herz Deutschlands. Aber ich kenne seine Seele. Die habe ich studiert.«
Als der große Mercedes viel zu schnell über vertraute Landstraßen fuhr, redete ich mit dem Mann, den viele für den zweitmächtigsten Mann in Deutschland hielten. Wenn Hitler an diesem Tag getötet würde, dann würde Hess das Amt des Führers übernehmen.
Die meiste Zeit über waren seine Gesprächsthemen so banal wie die aller anderen Nazis, doch immer wieder schimmerte eine eigenartige Mischung übernatürlicher Ideen und seltsamer Ansichten zu seinen Essgewohnheiten durch, die ihn nach allen Regeln der Kunst als Spinner auswiesen. Da er wusste, dass ich aufgrund meiner vorgetäuschten Verwandtschaftsbeziehungen zum Heiligen Gral und den mit ihm verbundenen Legenden eine engere Beziehung hatte, sprach er ganz unbefangen und erzählte mir, er habe die Legenden derer von Bek gelesen und aus den Büchern erfahren, dass der Heilige Gral möglicherweise die verlorene heilige Reliquie des Deutschen Ordens darstelle. Das Schwert auf Bek sei das verlorene Schwert Rolands, der Karl dem Großen, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, als Paladin zur Seite stand. Die Franken und Goten gründeten das moderne Europa, sagte er. Die Normannen waren strenge Gesetzgeber, die keine Rücksicht auf den
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