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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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natürlichen Steinbrücke, die das Wasser offenbar von Ufer zu Ufer überspannte. Vielleicht war dies unser Ziel. Ich nickte ihr zu und machte mich bereit, ihr zu folgen, als sie vorsichtig einen unebenen Weg, der wie mit Quecksilbertröpfchen überzogen schien, hinunter stieg. Das Brüllen und Beben, die langen Steinfinger, die vom Dach herunterhingen oder vom Boden aufstiegen, das Licht, die Wucht des Wassers, all dies machte mich benommen. Ich fühlte mich, als hätte ich die reale Welt ganz und gar verlassen und steckte in einem phantastischen Abenteuer, das nicht einmal ein Schiller sich hätte ausdenken können.
    Überall schien der Fels in organischen Bewegungen erstarrt. Als wären alle Lebewesen der Erde hergekommen und zu einer sich windenden Chimäre verschmolzen. Bäume verwandelten sich in Reihen von Bischöfen, die Bischöfe wiederum in grinsende Gnome. Köpfe alter Schildkröten reckten sich aus Gruppen von Langusten hervor, die Augen waren wie die Augen von Basilisken. Man hatte den Eindruck, sie könnten einen immer noch erreichen. Götter und Göttinnen, ähnlich den komplizierten Schnitzarbeiten auf den Säulen hinduistischer Tempel oder burmesischer Pagoden. Manchmal konnte ich kaum glauben, dass so etwas nicht das Werk irgendeiner Intelligenz sein sollte. Jeder Aspekt der Erdoberfläche war hier dargestellt, alle Arten von Menschen und Tieren, Pflanzen und Insekten, manchmal grotesk verzerrt oder zwanzigfach vergrößert. Als wäre der Stoff, aus dem das Chaos bestand, noch nicht voll ausgebildet, im Augenblick der Entstehung erstarrt. Als hätte eine Phantasie begonnen, eine vielgestaltige Welt zu erschaffen und wäre mittendrin unterbrochen worden.
    Der Anblick einer nicht ganz geborenen Welt weckte in mir den Wunsch, in die Dunkelheit zurückzukehren, die sie vor mir verborgen hatte. Ich drehte allmählich durch. Ich musste zugeben, dass ich einem solchen Erlebnis nicht gewachsen war. Doch irgendetwas in mir trieb mich an und verhöhnte mich, damit ich weiterging. So etwas hatte man in Ägypten und Mexiko nachzuempfinden versucht. So etwas hatte man im Buch der Toten aufgezeichnet. Hier waren die Gottheiten mit den Tierköpfen, die Helden und Heldinnen, die Engel und Dämonen und alle Geschichten der Welt vereint. Grenzenlos erstreckten sich Statuen und Friese und Gärten aus Kristall, nirgends war eine Wand zu sehen, die alles einschloss und uns eine Orientierung gab. Ich begriff, dass wir längst über den Punkt hinaus waren, an dem ein Kompass uns hätte helfen können. Hier gab es keine bekannten Mittel der Orientierung, hier gab es nur den Fluss.
    Vielleicht hatten die Pseudowissenschaftler der Nazis Recht und unsere Welt war eine von Fels umschlossene Kugel, die in einem unendlich großen Felsen steckte. Was wir als Sterne wahrnahmen, waren nur Lichtpunkte der kalten Feuer, die im Fels brannten.
    Es war kein Trost, dass ich diese Theorie jetzt am eigenen Leibe erleben sollte. Zweifellos erkundeten wir gerade einen unendlich großen Fels. Aber hatte der Fels einmal gelebt? Oder verspottete er nur das Leben? Hatte er einmal wie wir aus organischer Materie bestanden? Versuchte er, sich eine Form zu geben, die dem Leben auf der Oberfläche entsprach, wie auf weniger komplizierte Weise eine Blume oder ein Baum danach strebte, die Erde zu durchdringen und das Licht zu erreichen? Es fiel mir leicht, dies zu glauben. Wer nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat wie ich, soll sich nur ein Bild der Höhlen von Carlsbad nehmen, dann wird er verstehen, was ich meine.
    Die Säulen sahen aus wie von begnadeten Irren geschnitzt. Man konnte auf ihnen jeden nur denkbaren Umriss und alle möglichen Gesichter und Ungeheuer erkennen. Jeder Fels ging nahtlos in den nächsten über, die Vielfalt war unerschöpflich. So schienen sie in die Dunkelheit zu marschieren, die Umrisse im flackernden weißen Feuerschein einmal scharf abgezeichnet und dann wieder mit der Dunkelheit verschmelzend, während sich zu ihren Füßen der riesige phosphoreszierende Fluss ins Herz der Welt ergoss. Eine prächtige Vision der Unterwelt, als wären die Niagarafälle in ein mondbeschienenes Elfenreich verlegt worden, in den Traum eines Opiumessers. Sah ich hier das Land und die Welt der Verdammten vor mir? Ich hatte den Eindruck, die lauernden Felsen könnten jeden Augenblick zum Leben erwachen, um mich mit einer Berührung zu einem der ihren zu machen, für tausend Jahre erstarrt und nur für einen Augenblick wieder zum Leben

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