Tochter Der Traumdiebe
aufzusetzen. So schmal war es, dass es mich, obwohl halb verhungert, immer noch einzuklemmen schien. »Ich war auf der Flucht aus dem unwirtlichen Rif-Gebirge. Ich hatte das sagenhafte Ton-al-Oorn gesucht. Mein Gefährte ist gestorben. Dem Tode nahe, fand ich einen alten Tempel. Er war weitläufiger, als ich dachte, und so bin ich schließlich hier angekommen.«
Der ganze Raum schien aus dem gewachsenen Fels ausgewaschen und hatte eine Atmosphäre, als befände ich mich in einer ägyptischen Grabkammer, wie ich sie in meiner Jugend auf dem Schulausflug in die alte Welt und ins Heilige Land gesehen hatte. Halb erwartete ich schon, ägyptische Motive auf den hellen Wänden zu entdecken. Ich trug jetzt ein langes Gewand, das etwas zu eng war und einem Nachthemd ähnelte. In Ägypten nannte man diese Kleidungsstücke Dschellaba.
Ich befand mich in einem lang gestreckten, schmalen Raum, der beinahe wie ein Flur wirkte. Erhellt wurde er von schlanken Gläsern voll von glühendem Wasser. Alles hier war dünn und gestreckt wie gezogenes Glas. Ich fühlte mich wie in einem jener Spiegelkabinette, die vor einigen Jahren in Wien so großes Aufsehen erregt hatten. Selbst der breite Franzose wirkte hier ein wenig kurz und kantig. Es war eine seltsame Umgebung, doch allmählich wurde mir bewusst, wie gut ich mich fühlte. Ich hatte mich nicht mehr so kräftig und eins mit mir gefühlt, seit ich beim alten von Asch meine Lektionen absolviert hatte.
Die Stille vergrößerte noch mein Wohlbefinden. Das Rauschen des Wassers war fern genug, um beruhigend zu wirken. Ich hatte keine große Lust zu sprechen, musste jedoch meine Neugierde befriedigen.
»Wenn dies hier nicht Mu Ooria ist, wo sind wir dann?«, fragte ich.
»Genau genommen ist dies hier überhaupt keine Stadt, sondern eine Universität, auch wenn sie ganz anders arbeitet als die meisten anderen Universitäten. Sie ist auf beide Seiten des strahlenden Flusses verteilt, damit die Wissenschaftler das Wasser studieren und seine Sprache lernen können.«
»Seine Sprache?«
Das war in der Tat die beste Übersetzung für das Wort, das er benutzte. »Die Leute hier glauben nicht, das Wasser sei im gleichen Sinne belebt wie ein Tier. Sie glauben allerdings, dass alles eine ganz eigene Natur habe, die, wenn man sie richtig versteht, es erlaubt, in größerer Harmonie mit der Umgebung zu leben. Dies ist das Ziel ihrer Forschungen. Sie legen keinen großen Wert auf mechanische Dinge, sondern sie nutzen die Kräfte, die sie entdecken, zu ihrem Vorteil.«
Ich stellte mir ein vergessenes orientalisches Land vor, das vielleicht mit Tibet Ähnlichkeit hatte, wo die Menschen das Leben in religiöser Kontemplation verbrachten. Wahrscheinlich waren sie auf ganz ähnliche Weise hergekommen wie wir, gehetzt von irgendeinem Feind, um mit der Zeit immer dekadenter zu werden, jedenfalls gemessen an meinen eigenen eher puritanischen Maßstäben.
»Die Leute hier haben Sie wieder gesund gemacht«, erklärte Fromental mir. »Sie dachten, Sie würden beim Aufwachen lieber ein vertrautes Gesicht sehen. Sie werden sie bald kennen lernen.« Er schien zu erraten, was ich dachte. »Ihre Forschungen haben durchaus einen praktischen Nutzen. Man hat Sie lange in einem Heilteich schlafen lassen. Die Knochenrichter und Muskelschmeichler arbeiten meist in solchen Teichen.« Als er meinen Gesichtsausdruck sah, lächelte er und ergänzte die Erklärung. »Es gibt hier Teiche mit Flusswasser, in die sie noch gewisse andere Dinge hineintun. Ganz egal, woran Sie leiden, ob es ein Knochenbruch ist oder ein bösartiges Geschwür an einem Organ, es kann in den Heilteichen geheilt werden, wenn man bestimmte Verfahren einsetzt, die für Ihr Leiden geeignet sind. Musik beispielsweise, und auch Farben. Da dieser Ort zeitlos ist, gibt es hier auch nicht die starken Bezüge auf Zeitabläufe, wie wir sie an der Oberfläche kennen.«
»Die Leute hier altern nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich war nicht in der Stimmung für weitere Rätsel. »Warum ist Oona ohne mich weitergereist?«
»Eine sehr dringende Angelegenheit, nehme ich an. Sie erwartet, dass Sie ihr folgen. Von hier aus werden bald einige Leute zur Hauptstadt aufbrechen, die am Rand des Ozeans liegt, den Sie von oben gesehen haben.«
»Reist man hier der Sicherheit wegen in Gruppen?«
»Eher wegen der angenehmen Gesellschaft. Sie müssen hier nicht mit übernatürlichen Schrecken rechnen, mein Freund. Sie mögen den Eindruck haben, Sie wären in einen
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