Tochter Der Traumdiebe
wirkt auf uns, als wäre sie sehr einfach aufgebaut. Doch Sie und ich, wir haben nicht die Augen, um die Schönheiten zu sehen, die diese Leute wahrnehmen, wir haben kein Gespür für die feinen Abstufungen von Farbton und Schattierung, die für die Einheimischen ebenso lebendig sind wie für uns die Rosen oder Sonnenuntergänge auf der Erde. Sie werden bald genauso wie ich besessen sein von dem Wunsch, die Empfindungen dieser sanften und komplizierten Wesen zu verstehen.«
»Vielleicht«, erwiderte ich, »vielleicht werde ich diesen Wunsch verspüren, wenn die Zeit kommt, mich auf einen friedlichen Lebensabend einzurichten. Inzwischen aber gilt es in meinem Land einen unbarmherzigen Feind zu bekämpfen - und diesen Kampf muss und will ich führen.«
»Nun, jeder Mann muss fähig sein, seinem besten Freund in die Augen zu sehen«, sagte Fromental, »und ich will Sie nicht davon abhalten. Können Sie gehen? Kommen Sie, wir werden den Gelehrten Fi, der sich sehr für Ihr Wohlergehen eingesetzt hat, um Rat fragen.«
Ich stellte fest, dass ich mühelos gehen konnte und mich ausgesprochen kräftig fühlte. Ich folgte Fromental, der seinen massigen Körper seitlich durch einige Türen quetschen musste, auf einem spiralförmig angelegten Weg nach unten zur Straße. Ich rannte fast, als wir die kühle, feuchte Luft im Freien erreichten. Doch der Anblick der träumenden Stadt, anscheinend in ewiges Mondlicht gebadet, mit filigranen Türmen, die den Anschein erweckten, sie könnten beim leisesten Geräusch zerspringen, mit Gehwegen aus Basalt und unübersichtlichen Gärten voll bleicher Pilze, deren Formen denen der Felsen ähnlich waren, erfüllte mich mit Achtung und verlangsamte meinen Schritt. Als wir den Torbogen am Ende des lang gestreckten Flurs hinter uns gelassen hatten, nahm ich ein Dutzend köstliche, zauberhafte, warme Gerüche wahr, die wahrscheinlich von frisch zubereiteten Speisen herrührten. Es war der köstliche Duft, wie man ihn mit bestimmten Trüffeln in Verbindung bringt.
Die Türme selbst bestanden aus Basalt, in den andere Gesteinsarten eingeschmolzen waren, um den Eindruck zu erwecken, hinter dickem Glas wären verschiedene Wesen gefangen, die uns ständig anstarrten. Diese natürliche Architektur, die intelligente Geschöpfe sich nutzbar gemacht hatten, war von einer außergewöhnlichen Schönheit und Anmut. Manchmal, wenn ein leichtes Beben vom Fluss her durch den Boden lief, schwankten die Gebäude ein wenig und gaben ein leises Murmeln von sich, als wären sie plötzlich zum Leben erwacht. All diese bleichen Wunder hoben sich vor dem unruhigen Glanz des Stromes und dem fernen Licht des Ozeans ab. Auf einmal sah ich den Fluss als eine hiesige Version des Nil, der Mutter aller Zivilisationen. Hatte ich deshalb instinktiv eine Verbindung zu den Erbauern der Pyramiden hergestellt?
Als wir weitergingen, fragte ich Fromental, ob ihm Bastable bekannt sei. Fromental war ihm einmal in eben dieser Universität begegnet. Er wusste, dass Bastable regelmäßig die Hauptstadt von Mu Ooria besuchte.
»Dann ist es also möglich, jederzeit zu kommen und zu gehen?«
Fromental schien amüsiert. »Aber gewiss doch, mein Freund. Wenn Sie Bastable heißen, ist das kein Problem. Dieser Engländer gehört zur recht exklusiven Gruppe von Menschen, die fähig sind, auf Wegen zu reisen, die man manchmal ›die Mondstrahlwege‹ nennt. Das ist eine Gabe, die mir leider fehlt. Er kann sich willentlich von einer in die andere Sphäre bewegen. Er hält Sie meines Wissens für einen sehr wichtigen Mann.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich habe es von Ma’m’selle Oona erfahren, von wem sonst?«
»Ich denke, er schätzt mein Schwert mehr als meine Person.«
»Der Gelehrte Gou kennt ihn. Ich habe gehört, wie er darüber gesprochen hat und glaube, Bastable weiß beides zu schätzen.«
Damit schritten wir durch einen weiteren Bogengang und betraten ein Gebäude, das aus Fleisch und Blut zu bestehen schien, einem inneren Organ ähnlich, auch wenn sich das Gestein kalt wie Marmor anfühlte.
Wir standen in einem sehr hohen Saal, der von einem Lüster erhellt wurde, auf dem Dutzende der langen, schlanken Lichtflaschen befestigt waren, die ich schon vorher gesehen hatte. An den Wänden des Saales hingen Tafeln, Pläne und Abbildungen, die in vielen verschiedenen Sprachen beschriftet waren. Das wichtigste Stück schien ein mit wundervoll sauberer und fließender arabischer Schrift ausgefülltes Blatt zu sein. Offenbar
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