Tochter Der Traumdiebe
Lügen, was?«
»Hat er Ihnen gedroht?«
»Seine Worte klangen relativ diplomatisch. Aber die Drohungen waren nicht zu überhören. Er ist daran gewöhnt, mit Drohungen zu erreichen, was er will. Er will mit Ihnen reden. Er will Sie überzeugen, dass Sie Ihre Pflicht tun und sich den Vertretern von Recht und Gesetz stellen. Er sagt, er habe nicht viel Zeit und werde nur gerade so viel Gewalt einsetzen, um seine Macht zu demonstrieren.« Fromental glaubte offensichtlich kein Wort von der Geschichte, die mein Vetter Gaynor ihm erzählt hatte. Aber einhundert von sich eingenommene Nazi-Rüpel konnten bei Wesen, die nichts über den Krieg oder über andere Formen der Aggression wussten, beträchtlichen Schaden anrichten. Ich fürchtete um das Volk des Gelehrten Fi mehr als um mich selbst.
»Wollen Sie mit diesem Mann sprechen?«, fragte der Gelehrte Fi.
Ich versuchte ihm so gut wie möglich zu erklären, was geschehen war, bis er eine langfingerige Hand hob. Ob es mir etwas ausmachte, fragte er, wenn er mich begleitete, damit er Gaynor kennen lernen könne? Unsicher stimmte ich zu.
Gaynor und seine Armee uniformierter Grobiane lümmelten am Fuß der Brücke herum. Hier war das Rauschen des Wassers lauter, aber die Stimme des Gelehrten Fi übertönte es mühelos. Er hielt zur Begrüßung eine kleine Ansprache und fragte Gaynor, was er begehrte. Gaynor wiederholte die unsinnigen Forderungen, von denen wir schon erfahren hatten. Der Gelehrte Fi lachte ihn aus.
Klosterheim, der neben Gaynor stand, zog sofort die Werther PPK aus dem Halfter und richtete sie auf den Gelehrten Fi. »Ihr Geschöpf sollte einem Offizier des Dritten Reichs etwas mehr Respekt erweisen. Sagen Sie ihm, er soll vorsichtig sein, sonst werde ich an ihm ein Exempel statuieren. Um den Führer zu zitieren: Nichts ist so überzeugend wie die plötzlich überwältigende Angst, eines schnellen Todes zu sterben.«
»Ich meine es ernst mit dem Schwert.« Gaynor richtete seine schrecklichen Augen auf mich. Der letzte Rest seiner geistigen Gesundheit war verschwunden, als er in die Höhlen eingedrungen war und diese Welt gesehen hatte. »Ich werde jeden töten, der mich daran hindert, die Klinge zu bekommen. Wo hast du sie versteckt, Vetter? Meine Liebe, meine Bestimmung. Wo ist mein Rabenbrand?«
»Die Klinge hat sich selbst versteckt«, sagte ich. »Du wirst sie niemals hier finden und ich werde dir nicht sagen, wo sie ist.«
»Dann sind Sie für den Tod dieses Ungeheuers verantwortlich«, sagte Klosterheim. Er richtete die Pistole direkt auf die hohe Stirn des sanften Gelehrten und drückte ab.
ZWEITES BUCH
Fortgegangen in die Welt hinter der Welt
Eingetaucht ins Meer unter dem Meer
Suchen Orpheus und die Brüder
Gefährtinnen unter den Toten.
Lobkowitz,
Orpheus in Auschwitz, 1949
8. Morpheus’ Arme
Genau in dem Augenblick, als Klosterheim den Abzug seiner Automatik durchdrückte, begriff ich, dass ich die Welt meiner Familie weit hinter mir gelassen und endgültig ins Reich des Übernatürlichen gewechselt war.
Klosterheims Pistole bellte kurz auf, doch kein Echo war zu hören. Das Geräusch wurde irgendwie von der umgebenden Atmosphäre verschluckt. Dann konnte ich sehen, wie die Kugel ein paar Zentimeter vor dem Lauf angehalten und von der Luft verschluckt wurde.
Klosterheim ließ mit einem ausgesprochen resignierten Gesichtsausdruck die nutzlose Waffe sinken und steckte sie wieder ins Halfter. Er sah seinen Herrn fragend an.
Gaynor fluchte. »Gottverdammt, wir sind in Mittelmark!«
Klosterheim verstand ihn sofort und auch ich erfasste sogleich, was er meinte. Eine Erinnerung, so alt und geheimnisvoll wie das Blut meiner Familie.
Die umgebende Landschaft, so fremdartig sie auch war, fühlte sich viel zu real an, um die Vermutung zuzulassen, es wäre nur ein Traum. Die einzige andere mögliche Schlussfolgerung nagte schon seit einer ganzen Weile an meinem Verstand. Sie war ebenso nahe liegend wie absurd.
Wie Gaynor vermutet hatte, waren wir ins märchenhafte Reich Mittelmark eingedrungen, ins Grenzland zwischen der menschlichen Welt und dem Reich der Märchenwesen. Den alten Geschichten zufolge haben meine Vorfahren diesen Ort gelegentlich besucht. Ich hatte immer angenommen, dieses Reich sei so real wie die Märchenwelt der Brüder Grimm, jetzt aber begann ich mich zu fragen, ob die Grimmschen Märchen vielleicht umgekehrt eine realistische Schilderung meiner gegenwärtigen Umgebung darstellten. Vielleicht spielten auch der
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