Tochter Der Traumdiebe
ich solle mich zurückhalten. Er wollte auf den Überlebenswillen des Off-Moo vertrauen.
Der Gesichtsausdruck des Gelehrten Fi änderte sich so wenig wie seine Haltung. Er blieb ruhig stehen und beobachtete das sich entwickelnde Drama. Völlig ungerührt murmelte er einige griechische Worte, als der SS-Mann sich ihm näherte.
Mich ängstigte bereits, was ich nur in Lukenbachs Augen sah. Sie hatten jenen bekannten, verträumten Ausdruck angenommen, den ich in den letzten Monaten so häufig gesehen hatte. Der Blick eines Sadisten, eines Wesens, das im Namen einer höheren Macht die abscheulichsten Gelüste befriedigen durfte. Was hatten die Nazis nur in dieser Welt geweckt? Zwischen Verharmlosung und Heuchelei bleibt kein Raum für das Gewissen. Ohne unser Gewissen, dachte ich, bleiben nur Begierden und Vergessenheit - die Ewigkeit des ungeformten Chaos oder der versteinerten Ordnung, die im Irrsinn des Kommunismus und Faschismus so schreckliche Vereinfachungen erfahren hatte. Unfruchtbarkeit und Tod sind die Folge, und das Laissezfaire des Kapitalismus war keine Alternative, sondern führte letzten Endes zum gleichen Ergebnis. Erst wenn die Kräfte im Gleichgewicht waren, konnte das Leben wirklich blühen. Die ›Ordnung‹ der Nazis war nicht mehr als ein vorgetäuschtes Gleichgewicht, die vereinfachte Überlagerung einer komplizierten Welt - also genau jene Konstruktion, die stets die größten Zerstörungen nach sich zieht. Das ist die fundamentale Logik von Aktion und Reaktion. Ich sollte ein Beispiel dieser Zerstörungskraft erleben, als der SS-Offizier langsam vorrückte.
Lukenbachs Augen zeigten, dass er sich auf das Gemetzel freute. Er hob den Arm und machte die letzten Schritte auf uns zu, um den Gelehrten Fi mit höhnischem Grinsen zu töten.
Ich konnte mich nicht länger zurückhalten, als ich das Leben des Off-Moo auf diese Weise bedroht sah. Ich sprang vor, ignorierte Fromental und den Gelehrten. Doch bevor ich Lukenbach erreichen konnte, schob sich ein anderer Mann zwischen uns. Auch diese Gestalt war von Kopf bis Fuß in eine Rüstung gekleidet, die ebenso protzig schien wie die erste, die ich gesehen hatte, doch war diese hier pechschwarz. So unvertraut die Aufmachung auch schien, das Gesicht war mir bekannt. Hager, weiß, mit lodernden Augen, hart wie Rubine. Es war mein eigenes Gesicht. Es war das Wesen, das ich im Traum und später im Konzentrationslager gesehen hatte.
Ich war so schockiert, dass ich wie angewurzelt stehen blieb und den Augenblick verpasste, mich dem Nazi in den Weg zu stellen. »Wer bist du?«, fragte ich.
Mein Doppelgänger wollte antworten, der Mund formte einige Worte, doch ich hörte nichts. Dann wich er zur Seite aus. Ich wollte sehen, wohin er ging, er war jedoch verschwunden.
Lukenbach hatte sein Opfer fast erreicht. Ich konnte nicht mehr rechtzeitig eingreifen.
Langsam hob der Gelehrte Fi einen langen, schlanken Arm, vielleicht eine warnende Geste. Lukenbach drang weiter vor, als wäre er in eine Trance gefallen. Er packte den Griff des Hakenkreuzdolchs noch fester und machte sich bereit, den ersten Stoß zu führen.
Jetzt machten Fromental und ich gleichzeitig einen Schritt, um den Gelehrten doch noch zu verteidigen, aber Fi wehrte uns mit einer Geste ab. Als Lukenbach nahe genug war, um den Gelehrten zu erstechen, öffnete der Off-Moo den Mund weiter, als es je ein Mensch vermocht hätte. Beinahe schien es, als hätte er sich den Unterkiefer wie eine Schlange ausgehakt. Er schrie.
Es war ein zugleich entsetzlicher und doch melodischer Laut. Ein Heulen, das die ganze Höhle bis hinauf zu den bebenden Stalaktiten erfüllte: dass sie alle auf uns herunterprasseln mochten. Dennoch hatte ich den Eindruck, der Schrei sei sehr gezielt und auf eine ganz bestimmte Art und Weise moduliert.
Kristalle begannen über uns zu klimpern und zu murmeln, als sie in Resonanz gerieten. Aber nichts löste sich da oben.
Endlos lange schien der Schrei zu dauern, melodisch und genau gesteuert. Hoch droben klingelten und knisterten die Kristalle, bis sich nach und nach eine einzige süße Harmonie herausbildete, die mit einem überraschenden, jähen Knacken abbrach.
Ein einzelner schlanker Speer hatte sich aus der Reihe seiner Gefährten gelöst, als hätte der Off-Moo ihn gezielt ausgesucht, und stürzte auf den angreifenden Nazi herunter, dessen Grinsen breiter wurde, während er die Vorfreude auskostete. Offensichtlich dachte er, der Gelehrte Fi hätte vor Angst geschrien.
Nicht
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