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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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nicht die Absicht!« Kuno ist aufgestanden. Es weht durch die offene Tür, und er schließt sie.
    »Die Welt verändert sich. Manchmal schickt Gott uns die größten Gaben bis zur Unkenntlichkeit verkleidet«, sagt Hildegard ruhig. »So prüft er uns, und so erforscht er unsere Herzen. Wäre Margreth nicht geschändet worden, wäre sie nie zum Disibodenberg gekommen, und so hätte sie wohl nie Gelegenheit bekommen, mit mir über ihre Ergebenheit in Gott zu sprechen. Es ist kein Geheimnis, das wissen sowohl du als auch ich, dass viele der Brüder und Schwestern nicht aus Frömmigkeit ins Kloster eintreten, sondern nur aus Ursachen praktischer Natur. Wie können wir da jemandem die Tür weisen, der Gottes Ruf gehört hat? Und wie soll ich es wagen, die Stimme zu überhören, die stets die Wahrheit spricht und mir auferlegt hat, meinem Gelübde zum Trotz über die Dinge zu sprechen, für die ich keinen Verstand habe; die mich zu deiner Tür schickt, weil du des Klosters Schäfer bist, immer gerecht und gut.«
    »Ich will auf andere Weise fragen: Wie in aller Welt sollen wir sie hierbehalten? Sollen wir als Zufluchtsstätte für junge Frauen in Schwierigkeiten bekannt werden? Wir wissen beide, dass es für gewisse Klöster nichts Ungewöhnliches ist, Frauen aufzunehmen. Aber ich muss mich doch fragen, ob im ganzen Reich das Gerücht umgehen soll, Disibodenberg sei ein solcher Ort? Du musst verstehen, Hildegard, wenn diese Margreth den ganzen Weg von Schmie bis hierher gekommen ist, dann nicht, weil sie unterwegs nicht an die Tür anderer Klöster hätte klopfen können. Sie ist den Gerüchten über dich gefolgt, Hildegard, und obwohl einige davon möglicherweise wahr sind, ist es weder für dich noch für uns wünschenswert, dass du im Norden wie im Süden bekannt bist. Es wird über dich gesprochen, Hildegard, und wo Menschen reden, verändern sie die Wahrheit und machen sie oft hässlicher, als sie ist. Und nein, du sollst nichts erwidern. Ich kann dir nichts anderes versprechen, alsdass ich über deine Worte nachdenken und Gott bitten werde, mir zu zeigen, was ich tun soll. Geh, Hildegard, und zeig dich nicht, bevor ich dich rufe.« Kuno kneift die Augen zusammen. Hildegard irritiert ihn, aber er kann die Weisheit in ihren Worten nicht überhören. Jedes Mal, wenn sie von dem spricht, was sie sieht und hört, ist er sich darüber im Klaren, dass eine solche Klugheit unmöglich von ihr selbst kommen kann.
 
    Schon am nächsten Morgen lässt der Abt nach Hildegard schicken. Er hat Volmar gebeten, sie gleich nach der Terz zu seinem Haus zu begleiten. Volmar hat keine Ahnung, worum es geht, und so setzt Hildegard ihn auf dem Weg über den Hofplatz ins Bild. Zum Glück sind es nur wenige Schritte, sodass er keine Gelegenheit bekommt, sie etwas zu fragen. Aber er kann nicht verbergen, dass er nicht gerade erfreut ist über das, was er hört, und das merkt Hildegard deutlich.
    Der Abt erwartet sie im Vorraum und vertut keine Zeit mit unnötigem Gerede.
    »Ich will gleich zur Sache kommen«, sagt er und bittet sie mit einer Handbewegung, am Tisch Platz zu nehmen. Nur Volmar kommt seinem Wunsch nach. »Dein Vater war ein frommer und großherziger Mann, Hildegard. Er beschied sich nicht damit, das Kloster mit reichen Gaben zu bedenken, als du damals hierherkamst, sondern zeigte seine Freigebigkeit Jahr für Jahr. Gab es aus dem einen oder anderen Grund eine Ausgabe, die unsere Mittel überstieg, konnte ich immer mit seinem Wohlwollen rechnen, und er brachte ebenfalls große Summen unter seinen Freunden auf. Nachdem er starb, kamen schwerere Zeiten für Disibodenberg, und es ist allein der Sparsamkeit geschuldet, dass darunter bislang noch niemand zu leiden hatte. In diesem Jahr war der Winter streng, und wir wissen nicht,wann der Frost aus der Erde weicht. Es ist nicht vorhersehbar, was die Weinernte einbringen wird, das hängt von vielen Dingen ab. Die Südmauer ist kurz vor dem Einsturz und muss erneuert werden, die Decke der Kirche wartet noch immer auf ihre Ausgestaltung zur Zierde des Klosters, und viele andere Dinge müssen in Ordnung gebracht werden. Juttas Familie steuert bei, wo sie kann, aber nachdem auch Sophia gestorben ist, ist es nicht mehr besonders viel, was Meinhardt entbehren zu können meint. Deshalb habe ich beschlossen, auf dich zu hören und Margreth Novizin am Disibodenberg sein zu lassen, sofern ihre Familie bereit ist, eine passende Mitgift zu bezahlen.« Er schweigt und wartet Hildegards Reaktion ab.

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