Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
bewirkt: dass Schuldgefühl und Schwermut von ihr abfielen und stattdessen fiebrige Aufregung wuchs; dass die Zukunft im Augenblick der Bedrohung mehr zählte als die Vergangenheit und dass Arvid ihr zwar zu Recht vorwerfen konnte, dass sie damals feige gewesen war - aber gewiss nicht, dass Gleiches auch jetzt galt.
Noch ehe dieser Anflug von Trotz endgültig über ihr schlechtes Gewissen siegte, verstummten die Schläge. Die Stille, die einsetzte, glich einer dunklen Wolke, aus der alsbald Blitze zu brechen schienen, bedrohlicher noch als die Schläge.
Die Subpriorin trat zu ihr. »Denkt Ihr ... Denkt Ihr ...«
Keinen Augenblick glaubte die Äbtissin, dass die Stille ein gutes Zeichen war. »Ich habe doch gesagt, ihr sollt in die Kirche gehen und dortbleiben«, sagte sie streng, »ihr alle ...«
Sie fixierte erst die schreckensbleiche Mathilda, dann die Schwester Cellerarin, zuletzt die Subpriorin.
Mathilda stolperte über die eigenen Füße, als sie sich abwandte, aber sie gehorchte, und auch die Schwester Cellerarin tat es ihr gleich. Die Subpriorin verharrte jedoch an ihrer Seite.
»Ich weiß, Ihr habt mir Euer Amt übertragen - aber niemand sonst kann die Schwestern trösten und beruhigen außer Euch. Sie malen sich in dunkelsten Farben aus, wie es wäre, den Heiden in die Hände zu fallen.«
»Wir wissen nicht, ob es Heiden sind«, entgegnete die Äbtissin, um danach zu bekräftigen, was sie zuvor schon gesagt hatte: »Die Nordmänner, die sich einst hier niedergelassen, den Glauben angenommen haben und längst wie Franken leben, schützen uns vor Scharen ihres einstigen Volkes, die dann und wann noch einfallen.«
Die Subpriorin schüttelte den Kopf. »Sie versuchen es, zweifellos. Aber Ihr wisst so gut, wie es alle wissen, dass es ihnen nicht immer gelingt, sie zurückzuschlagen. Die Völker des Nordens sind wild. Man sagt ihnen nach, sie seien so unbesiegbar wie das Heer von Nebukadnezar und die Perser unter Cyrus und die Makedonier unter Alexander, falls sie nach dem Gesetz Gottes lebten und unter einem Prinzen vereinigt wären.«
Arvid lauschte alldem zunächst ungerührt und hielt den Kopf leicht gesenkt. Doch plötzlich ballte er die Hand zur Faust, und es brach aus ihm heraus.
»Grausame Mörder gibt es auch unter den Franken.«
Es war das erste Mal, dass sich ihre Blicke wieder flüchtig streiften.
Die Subpriorin indes reckte die Hände in die Luft, tat, als hätte sie den Einwand überhört, und beschwor erneut die Gewalt der Heiden herauf. Ihre Klagen waren gewiss aus echter Angst und Verzweiflung geboren - zugleich jedoch, wie die Äbtissin vermutete, von dem Wunsch, sich die Welt zu erklären und sich auf Grenzen zu berufen, die andere gezogen hatten. Dass dort draußen womöglich Nordmänner standen, war fürchterlich - aber die Angst vor ihnen eine vertraute, mit der sie groß geworden war. Sie war nicht befremdend und verwirrend.
»Rollo war ein guter Herrscher«, beharrte die Äbtissin, nicht sicher, was sie zu diesem Wortwechsel bewog. »Sein Sohn Wilhelm ist das auch. Er wird uns schützen.«
Die Subpriorin schüttelte den Kopf. »Wilhelm mag gut sein, aber er ist schwach. Und Rollo wiederum mochte getauft sein, aber ...«
»Er war ein gerechter Herrscher! Jedes Kind erfährt, dass er einst einen Goldreif an einen Baum gehängt und ihn ein Jahr später wieder abgenommen hat, weil niemand ihn zu stehlen wagte, sondern jedermann seine Gesetze respektierte.«
»Das beweist nicht, dass er gerecht war, sondern grausam zu all jenen, die sich ihm nicht mit Haut und Haar unterwarfen. Er setzte auf Gewalt, nicht auf Vertrauen.«
Die Äbtissin presste ihre Lippen zusammen. »Kein Lehnsherr war König Karl treuer ergeben als Rollo. Als sich dessen größte Widersacher gegen ihn erhoben, Robert von Paris und Rudolf von Burgund, stand er allein auf des Königs Seite.«
»Aber Rollo hat zugelassen, dass eine Armee aus Dänemark unter dem Heiden Thorketill durchs Bessin zog und es verwüstete.«
»Das ist beinahe zwei Jahrzehnte her. Mittlerweile gehört das Bessin längst zu Rollos Herrschaftsgebiet oder nunmehr dem seines Sohnes. Und in diesem Gebiet herrscht Frieden!«
Bitter lachte die Subpriorin auf. »Vielleicht straft Gott uns gerade dafür, dass wir Christenmenschen uns auf diesen Frieden mit den Nordmännern eingelassen haben. Trotz seiner Taufe hat Rollo noch auf seinem Totenbett Menschenopfer befohlen.«
»Das ist nur ein Gerücht, denn dafür war er längst zu schwach. In den
Weitere Kostenlose Bücher