Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
hastig fort. »Und die Ampulle mit diesem heiligen Öl wurde von einer Taube geradewegs vom Himmel gebracht. Wer sich an ihm, dem gesalbten König, jemals vergreift, wird von Remigius verflucht - und nicht nur er selbst, sondern all seine Nachfahren. Remigius, das solltest du wissen, ist ein mächtiger Heiliger: Zu seinen Lebzeiten hat er allein kraft eines Kreuzzeichens eine Feuersbrunst gelöscht. Er hat ein Mädchen von den Toten erweckt, er hat Blinde sehend gemacht, und den Sündern, die nicht auf ihn hören wollten, wurde der Rücken krumm geschlagen. Wenn du seinen Zorn erregst - wird er auch deinen Rücken krümmen, dich mit Blindheit schlagen und langsam verbrennen lassen.«
Die Worte sprudelten aus ihr hervor, sie hatte keine Scheu zu lügen. Und eine Lüge war es - zwar nicht, dass Remigius diese Wunder gewirkt hatte, aber die Behauptung, dass er Königsmörder heimsuchte. In einem Land, wo erst die Merowinger herrschten und dann die Karolinger - beides Geschlechter, die nicht selten bereit waren, den aufrührerischen Sohn, Bruder oder Vetter zu meucheln - wäre Remigius nie zur Ruhe gekommen. Aber Worte waren ihre einzige Waffe. Gisla nutzte sie wie Thure, der, als er Taurins Männer zum Verrat anstiftete, auch nichts anderes getan hatte, als Worte wie eine Waffe zu nutzen. Ihre Todesangst war größer als die Verwirrung, dass sie nach seinem Vorbild handelte, dass sie mit dem grässlichen, entstellten Mann etwas gemein hatte: den Drang, den Bedrohungen des Lebens zu trotzen, und die Hoffnung, dass manchmal der Schwächere der Stärkere war.
»Was redest du da?«, rief Adarik erzürnt.
Gisla dachte an den ermordeten Bischof Fulco, dessen Geschichte ihr erst vor wenigen Tagen durch den Kopf gegangen war. Damals hatte sie damit gehadert, warum Hagano so schändlich an ihr handeln konnte und nicht von Gott dafür bestraft wurde wie Fulcos Mörder. Nun gab sie sich überzeugt, dass solche Strafe unausweichlich war.
»Wenn du das Blut einer Königstochter vergießt«, rief sie in die kalte Nacht, »wird ein stetes Feuer in dir brennen, das kein Wasser löschen kann. Geschwülste werden an deinen Füßen wachsen, auf dass du nicht wieder auftreten kannst, dein Geschlecht wird verkümmern, und du wirst keine Nachfahren zeugen, steter Durst und Hunger werden dich plagen, unstillbar. Du wirst dir den Tod wünschen, aber der Tod wird dich scheuen, so elend, geplagt und missgestaltet wie du sein wirst. Ja, das alles droht dir, wenn du dich an einer Königstochter vergreifst.«
Gisla atmete tief durch.
»Das Blut von welcher Königstochter denn?«, fragte Adarik. »Alle Welt glaubt, dass die wahre Königstochter an Rollos Seite in Rouen lebt!«
Seine Männer zählten für ihn offenbar nicht. So wenig wie für Taurin die seinen. Oder für Thure.
»Aber Gott weiß, dass sie nicht die wahre ist«, rief Gisla mit brechender Stimme. »Und der heilige Remigius weiß es auch. Er lässt sich nicht täuschen. Und solltest du es dennoch versuchen - so wird er nur umso mehr angestachelt sein, den Beweis dafür anzutreten, dass die himmlische Macht der irdischen überlegen ist.«
Adarik hob sein Schwert kein weiteres Mal, er steckte es in die Scheide. Kurz keimte Hoffnung in ihr auf - dass Furcht oder Mitleid oder Überdruss zu groß wären, sie zu meucheln. Doch dann lachte er, und Gisla erkannte, dass sie mit all ihren Worten ihren Tod nicht abgewendet, sondern nur verhindert hatte, dass der Tod schnell und gnädig kam.
Der Wind peitschte ihr ins Gesicht. Trotz der Kälte rann ihr Blut wie Feuer durch den Leib, als er hinter sich deutete. Sie hörte es rauschen - das Blut in ihren Adern und das Meer.
»Dann werde ich dein Blut eben nicht vergießen«, murmelte er.
Eine schwarze Wolke schob sich vor den Mond. Und mit ihr schien alle Hoffnung zu schwinden.
Adariks Stimme klang ausdruckslos, als er befahl: »Werft sie über die Klippen!«
Das Blut, das eben noch heiß durch ihre Glieder geflossen war, schien mit einem Mal zu erkalten, als lohnte es sich nicht mehr, einen Körper zu wärmen und zu beleben, der dem Tod geweiht war. Ihr Körper schien nicht einmal mehr zu ihr zu gehören. Einer von Adariks Männern warf sie sich achtlos wie einen Sack Getreide über die Schulter und trug sie auf die Klippen zu. Gislas letzter Blick fiel auf Runa - und dieser Blick war so kalt wie das Blut, das in ihr floss. Da war kein Platz für den tröstlichen Gedanken, dass sie nicht allein diesem Schicksal ausgeliefert war und
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