Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
man ihn, und schon hoben zwei eifrig ihr Schwert.
Adarik zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich will wissen, wer diese Männer waren - und der hier wird's uns erzählen, wenn er erwacht. Desgleichen, was er über Rouen und über Rollo weiß. Ob nun die Waffen klirren oder schweigen - es ist immer nützlich, seinen Feind zu kennen.«
Gegen Mittag spähte die Sonne endlich zwischen den Wolken hervor. Bunt machte sie die Welt nicht, aber sie half dem Wind, Runas und Gislas Kleidung zu trocknen. Der Stoff wurde vom Salz steif, riss bei jeder unachtsamen Bewegung und fühlte sich alsbald wie die Rinde eines knorrigen alten Baumes an. Sie liefen jedoch unbeirrt die Küste entlang, immer weiter und weiter, den ganzen Tag und auch den nächsten. Niemand verfolgte sie.
Die Landschaft änderte sich - mal war sie schroffer, mal hügelig, mal karg, mal bewaldet - nur eines änderte sich nicht: Auf der einen Seite war das Meer, auf der anderen Seite das Land, und das Leben war ein steter Kampf um Wärme und um Essen.
Runa hatte bei dem Sturz über die Klippen ihren Feuerstein verloren, und um sich zu wärmen, waren sie fortan auf die kargen Sonnenstrahlen angewiesen. Den Fisch, den sie fing, mussten sie roh essen.
Gisla klagte nicht. Ihr Kopf wurde immer leerer. So wie sie keinen Funken erzeugen konnten, um Holz anzuzünden, so war da kein Gefühl, das Sehnsucht entfachte oder Heimweh. Wenn sie an Laon dachte, stieg Haganos Gesicht vor ihr auf, nicht mehr das ihrer Mutter oder das Beggas, und auch nicht köstliche Speisen, die Wärme eines Kamins oder ihr weiches Bett. Mit jedem Schritt wurde ihr bewusster, dass das Leben, das sie jetzt führen musste, nur erträglich war, wenn sie so wenig wie möglich darüber nachsann.
Als die Steine unter ihren Füßen spitzer wurden, wichen sie ins Landesinnere aus und gingen eine Weile auf weicherem Waldboden.
Runa hatte einen neuen Feuerstein gefunden und fing nun einen Hasen. Als sie ihn brachte, nahm Gisla ihn entgegen und häutete ihn ganz selbstverständlich, fast ohne Ekel. Sie sammelte ein paar verkümmerte Beeren, Runa mühte sich darum, mithilfe von Reisig ein Feuer zu entfachen. Es war trockener als Tang, von dem es am Meer mehr als genug gegeben hatte, und am Ende gelang es ihr. Endlich gab es wieder gebratenes Fleisch.
Runa jagte Kleintiere, doch Beeren gab es alsbald keine mehr zu sammeln. Tag für Tag wurde es kälter. Der erste Schnee in diesem Jahr ließ nicht länger auf sich warten und deckte die Landschaft mit einer weißen Decke zu.
Gisla starrte gleichgültig darauf. Im dunklen Meer hatte sie gedacht, der Tod wäre schwarz. Nun kam sie zum Schluss, dass er weiß war. Und kalt. Und dass sie unmöglich den Winter im Freien überleben konnten.
»Wir müssen ein Plätzchen finden, wo wir unterschlüpfen können«, erklärte Runa.
Aber es gab nur Kälte und Weiß, und Gisla fühlte sich alsbald wie innerlich erfroren. Runa hingegen war noch lebendig genug, um zu hadern.
»Warum kommt der Winter nur so früh in diesem Jahr!«, klagte sie.
Trotz der Kälte zogen sie Tag für Tag weiter, und sie begegneten niemandem.
»Eigentlich ist es seltsam, dass hier keine Menschen sind«, sagte Runa. »Es heißt doch, dass die Nordmänner an der Küste siedeln.«
»Vielleicht«, gab Gisla zu bedenken, »haben wir das Nordmännerland längst hinter uns gelassen und sind in eine wilde Ödnis geraten.«
Auf dass das lange Gehen und stete Frieren erträglich wurden, redeten sie viel miteinander. Runa beherrschte das Fränkische immer besser, und auch für Gisla wurde es selbstverständlicher, die nordischen Silben zu gebrauchen. Eines Tages fiel ein Wort, das Gisla nicht verstand.
»Ymir muss missgestaltet sein«, murmelte Runa.
»Wer ist Ymir?«, fragte Gisla verwundert.
Die Geschichte, die Runa jetzt erzählte, war verworren. Da sie zwischen der nordischen und fränkischen Sprache wechselte, konnte Gisla nur verstehen, dass Ymir der Name eines der ersten Wesen war, die je gelebt hatten.
»Die Götter haben ihn getötet und aus seinem Leichnam die Welt geschaffen«, erklärte Runa. »Aus seinem Fleisch machten sie das Land, aus seinen Knochen die Gebirge und aus seinem Blut die Seen und das Meer. Aus seinen Zehen und Zähnen formten sie Felsen und Geröll, sein Haar bildete die Bepflanzung, die Schale seines Hirns wurde zum Himmel, und die Augenbrauen wurden in den Wind geworfen, auf dass der Himmel fortan Wolken hatte.
Ja, die Welt ist aus Ymir gemacht
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