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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Hölle hatte die Krieger ausgespuckt, die jene Schlacht vor dem Kloster ausfochten. Und die gleiche Hölle hatte sie jäh wieder geschluckt. Anstelle des Klirrens von Schwertern hörte man das Rauschen von Bäumen, anstelle des Zischens von Pfeilen das Kreischen der Vögel. Diese waren für die Äbtissin normalerweise ein Zeichen, dass es eine Welt außerhalb der Mauern gab. An diesem Tag kündeten sie jedoch nicht vom Leben - sie wurden vom Geruch der Toten angelockt.
    Die Subpriorin starrte gebannt auf das Tor. »Gott hat uns gerettet!«, rief sie erleichtert. »Er selbst hat uns von der Geißel befreit!«
    Die Äbtissin nickte, aber zweifelte daran. Sie hatte oft erlebt, dass andere sie retteten, und auch, dass sie sich selbst rettete - dass hingegen Gott der Allmächtige eingriff, hatte sie nie erfahren. Wenn sie in der Kirche betete, stellte sie sich ihn manchmal erhaben auf dem Thron sitzend vor. Und wenn sie an diesen Thron dachte, dann zugleich an Baldurs Palast Breidablik, wo es immer sauber war. Gewiss war es Lästerung, an beide in einem Atemzug zu denken und den einen mit dem anderen zu vergleichen, zumal der Christengott ein alter grauer Mann war, Baldur hingegen jung und stark. Aber sie hatten - ob Ausgeburt heidnischer oder christlicher Fantasien - eins gemeinsam: Sie saßen an einem reinlichen Ort.
    Die Äbtissin beneidete sie darum. Und dachte jetzt, dass kein Gott, ob der der Christen oder der der Heiden, seine saubere Welt verlassen und auf der hiesigen eingreifen würde.
    »Vielleicht ist es nur eine List«, murmelte Arvid und starrte wie die Subpriorin auf das Tor. »Vielleicht haben sie entschieden, das Kloster nicht wochenlang zu belagern, sondern setzen auf die Neugier der Nonnen.«
    Auf diese war tatsächlich Verlass. Die Stille lockte sie aus der Kirche, und während die einen ratlos dastanden und sich ängstlich umklammerten, eilten die anderen schon zum Tor - allen voran die Schwester Pförtnerin, deren Angst vor Ungewissheit größer schien als die vor dem Anblick Toter. Schon griff sie nach dem Riegel, der das Tor verschlossen hielt.
    Mathilda trat indessen zur Äbtissin: »Wollt Ihr wirklich das Tor öffnen lassen?«
    Sie wollte es nicht, aber sie befahl auch nicht, es sein zu lassen. Wenn dort draußen Unheil lauerte, dann hatte sie allein es verdient und konnte es nur abwenden, wenn sie ihm mutig entgegentrat und sich nicht feige verkroch.
    »Versteck dich!«, befahl sie Arvid - um ihn besorgter als um sich selbst. »Ich flehe dich an, versteck dich irgendwo! Ich werde sehen, was ich machen kann.«
    Er gehorchte nicht, wirkte vielmehr wie erstarrt und rührte sich auch dann nicht, als sie zu ihm trat, seinen Arm ergriff und ihn schüttelte.
    »Mach, dass du von hier fortkommst! Geh in den Getreidespeicher oder in die Kirche oder in ...«
    Die Worte erstarben in ihrem Mund. Als die Nonnen das Tor öffneten, erklang ein Quietschen, danach wieder nur Stille, schließlich das Kreischen der Vögel und plötzlich Arvids Ruf.
    »O Gott!«
    Sein Blick richtete sich starr nach draußen. Langsam, ganz langsam drehte sich die Äbtissin um, erkannte, dass die Angreifer zu keiner List gegriffen hatten, dass sie ihnen nichts zuleide tun konnten, dass sie alle tot waren.
    Arvid nahm ihre Hände. So wie die Schwestern sich aneinanderklammerten und körperliche Nähe nicht scheuten wie sonst, ließ er sie auch dann nicht los, als er schließlich auf die Toten zuging.
    Die Äbtissin ertrug den schauderhaften Anblick, schlug nicht, wie die Nonnen jetzt, die Hände vors Gesicht. Dies war ihre Strafe, dies ihr Opfer - diese Toten zu sehen, voller Blut, mit leeren Blicken und abgeschlagenen Gliedmaßen, mit wirrem Haar und dreckigen Hosen, weil im Augenblick des Todes Darm und Blase sich entleert hatten.
    Noch war der Gestank nur schwach. Noch ging nicht der süßlich klebrige Geruch der Verwesung von ihnen aus. Der Tod war hastig, wenn es darum ging, Beute zu erlegen, genüsslich langsam, wenn er dazu schritt, sie zu verzehren.
    Die Äbtissin seufzte, trat näher, musterte jeden Einzelnen. Es waren mehr, als sie erwartet hatte. Hatte Arvid nicht immer nur von einem Feind gesprochen?
    Sie wollte ihn fragen, doch da war ihr die Subpriorin schon gefolgt. Und sie erkannte entsetzt, was nun auch die Äbtissin erkannte.
    »Das sind keine Heiden!«, schrie sie. »Das sind Franken!«

IX.
    N ORDMÄNNERLAND F RÜHJAHR 912
    An den kältesten Tagen gefror selbst das Meer, Schnee fiel auf die riesigen Eisschollen,

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